Montag, 12. August 2013

Steine die auf Wasser hüpfen



"Was suchst Du?", fragte der Stern, fast schüchtern. Das feine Stimmchen wollte so gar nicht zu dem einhundermillionen Grad heißen, freischwebenden Glut- und Plasmaball passen. Aber er war ja so weit weg, so weit jenseits von Zeit und Raum, dass von ihm nur ein winziges Lichtpünktchen zu sehen war, schräg oberhalb des bewaldeten Höhenrückens, der die Lichter der umliegenden Dörfer und der Stadt abschirmte. Der Wald reichte bis fast ans Ufer hinunter, nur ein schmaler Streifen Sand und Kies trennte das Wasser von der dunkelgrün-samtenen Laubdecke. In den dunkelschwarzen Wellen glitzerten die Spiegelbilder der anderen Sterne; manche heller, manche unscheinbarer als der eine, der die Frage gestellt hatte.

Namensuchmann erschrak. Er erschrak nicht so, wie man erschrickt, wenn nachts plötzlich ein Zombie mit ohrenbetäubendem Gebrüll aus dem Schlafzimmerschrank bricht und seinen Kopf mit hohlem Dröhnen neben einem auf das Nachttischchen schlägt, immer wieder, bis sein morscher Schädel nur noch ein schwarzglänzender Lappen ist. Nein, Namensuchmann erschrak eher so, wie man erschrickt, wenn man am Wegesrand eine Margerite pflücken will und stattdessen einen Hahnenfuß erwischt. Das Herz macht nicht einen kompletten Extrahüpfer, der nächste diastolischer Schlag dauert lediglich einige Nanosekunden länger als der vorhergehende, im Gehirn entsteht für ganz kurze Zeit das Gefühl einer winzigen Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, die mit der Gegenwart nicht hunderprozentig ausgefüllt ist. Eine winzige Winzigkeit fehlt. Darin ein sachtes Getümmel von angedachten Gedanken, oder vielmehr Gedankenfragmenten, versehrter Sehnsüchte und altersfleckigen Hoffnungen; die verwirrt hochschauen, wenn die Decke des normalen Zeitablaufes plötzlich weggezogen wird.

Von einem sprechenden Stern.

Namensuchmann schluckte. Der Schluckvorgang benötigte mindestens vier Sekunden. Vier Sekunden, um nachzudenken oder es zumindest zu versuchen.

"Ich suche Frieden", sagte er schließlich.

"Ach, das ist ja interessant", sagte der Stern mit seiner sanften, hellen Stimme, "bist du nicht Namensuchmann? Ich hätte jetzt vermutet, dass du Namen suchst."

"Ich suche Namen, um Frieden zu finden", sagte Namensuchmann, während er einen Stein auf seine Wasserhüpffähigkeit prüfte und dabei dem neugierigen Stern einen kleinen Seitenblick zuwarf.

"Und warum hast du jetzt keinen Frieden?"

Namensuchmann setzte sich auf den immer noch sonnenwarmen Kies. Die Nacht wandelte lautlos über ihn hinweg, doch Anfang und Ende waren weit entfernt, jenseits der Horizonte. Der Tag würde alles von neuem beleuchten, enttarnen, würde Träume töten und Sehnsüchte betäuben. 

Dinge verschwanden und nahmen die Erinnerung an sie gleich mit. Was blieb waren kleine Momente, wie zwei umeinandertänzelnde Schmetterlinge im Spätsommerlicht. 

"Ich weiß es nicht", sagte Namensuchmann und warf einen Stein flach über das dunkle Wasser. Wo er aufhüpfte verschwamm und erzitterte das Spiegelbild des neugierigen Sterns. 

"Vielleicht", dachte Namensuchmann laut nach, "vielleicht möchte ich einfach, dass jemand meinen Namen sagt."