Mittwoch, 28. Dezember 2016

Ostwind wäre mir lieber

"Nein, ich bin nicht gekommen um etwas zu holen. Ich bin gekommen, um etwas zu erlösen."

"Ich habe gehört, eine Erlösung sei vonnöten", sagte der Mensch.

"Nimm Platz und erlöse dich."

"Träume nicht weiter von Straßen, die hinter bewaldeten Hügeln verschwinden."

"Nein, ich habe nichts gesehen, ich hatte die Augen geschlossen und versuchte, nicht an das Gehörte zu denken."

Die Landschaft verharrte in einem Zustand banger Zufriedenheit; ohne Laut kroch der Westwind über Friedhöfe und Hügel.
Wo in anderen Landschaften sich Dorf an Dorf reihte um endlich einer Stadt zu weichen, so reihte sich hier Friedhof an Friedhof, dazwischen sattgrüne Felder, die sich im Herbstwind wiegten und wogten. Und wo endlich eine Stadt sich hätte breiten müssen, befand sich lediglich ein noch größerer Friedhof, ruhig unter den ziehenden und fliehenden Cumuluswolken dunkelnd und flackernd.
Alte schwarze Mütterchen sprenkelten schwatzend die weissen Kieswege, ihre Schatten wie Kinder, die um sie herumtanzten. Es gab keine Häuser, es gab nie Häuser. Dafür gab es Grabsteine und Kreuze und das Summen und Zirpen der Insekten.

Der Auswurf, den Namensuchmann auf ein schwarzes Granitgrabmal erbrochen hatte, bildete beim trägen Hinunterrutschen den griechischen Buchstaben Pi.

"Ausgerechnet Pi", dachte Namensuchmann und ballte die Fäuste, dass die Knöchel weiß hervortraten und die Fingernägel sich in die Handballen gruben. Die Erinnerungen stürzten aus seinem Kopf und rannten wie aus einer dunklen Schachtel ins Freie gekippte Ratten orientierungslos auf dem Friedhof umher. Zwei der schwarzen Mütterchen wälzten sich auf dem Kies hin und her, wie eine dreisekündige Animation in Endlosschleife.

Namensuchmann wusste, dass die Kotze jeden Augenblick nach oben fallen würde und er hinterher. Vorbei an Mond und Mars, Saturn ahoi, Pluto aus dem Weg. Planet Neun war das Ziel. Vermutlich.

"Und, gehst du jetzt?"

Namensuchmann erschrak. 

Sonntag, 20. November 2016

Phänotypen der Zeitgeschichte, schreiend im Weltall

Heute: Wütender, weißer Mann (beim Versuch, die Ringe des Saturn zu zerdeppern)

 

Morgendämmerung

"Für ein Photon existiert keine Zeit. Wenn man sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegt, steht die Zeit still. Es gibt Photonen, die schwirren seit Anbeginn des Universums durchs All, aus der Perspektive eines Menschen auf der Erde schon fast 14 Milliarden Jahre lang. Fängt man eines mit einer Antenne auf und könnte man es fragen, wie lange es denn schon unterwegs ist, so würde es, vermutlich mit einem glockenhellen Stimmchen, wispern: `Wieso, ich bin doch gerade eben erst losgeflogen!´
Ein Raumfahrer, dessen Raumschiff binnen Sekundenbruchteilen auf  Lichtgeschwindigkeit beschleunigen könnte, wäre in der Andromedagalaxie kaum dass er den Startknopf gedrückt hätte. Auf der Erde wären derweil zweieinhalb Millionen Jahre vergangen."

"Das glaube ich alles nicht", sagte der Hammerhai genervt und rollte seine einen Meter weit auseinanderstehenden Augen, "das ist doch Mindfuck"!

Niemand beachtete ihn. Von oben sickerten blinkende Lichtreflexe herunter und tauchten das Auditorium in ein surreales Licht. Eine Art Schwirren wie von Millionen Libellenflügeln huschte über Gesichter, Pulte und Bänke. Die Lichtstrahlen, deren Photonen keinerlei Zeitempfinden hatten, stachen durch Bäume und vorbei an Dächern und Kirchtürmen. Meilen von sattsam ruhenden Gewerbegebieten breiteten sich unter dem Lichtfächer zu einem Ozean der beklommenen Ekstase; die Ekstase des prosperierenden Wohlstandes im Angesicht einer taumelnden Erde. Der Hammerhai beschwerte sich: "Die Türen sind viel zu schmal für mich. Ich muss mich immer zur Seite drehen, wenn ich eintreten möchte."

"Du kannst nicht eintreten, du kannst höchstens einschwimmen."

"Oha, seit wann duzen wir uns denn?"

Namensuchmann wachte auf und tastete nach dem Glas Wasser, das er jeden Abend auf den Nachttisch stellte bevor er zu Bett ging. Die Morgendämmerung hatte noch nicht eingesetzt, die Nacht war noch pechschwarz, obwohl ein lausig mitgenommener Mond tief über dem Westhorizont hing. Der Morgen war noch weit entfernt, und das war gut so. Zeit, die Gedichte zu rezitieren. 

(Der Hammerhai und eine ältere Dame aus dem Publikum wälzen sich plötzlich keuchend und schwer atmend auf dem Boden, dumpfe Schläge, nasses Patschen und spitze Quieker sind zu hören. Sie stoßen einen Tisch mit Infomaterial um, die große weiße Tischdecke landet wie ein Zelt auf den beiden Protagonisten. Darunter ist es plötzlich ruhig.)




Dienstag, 15. November 2016

Diktatoren der Zeitgeschichte, schreiend im Weltall

Heute: Recep Tayyip Erdogan (beim Versuch, das Universum zu verhaften)



Montag, 14. November 2016

Wenn die Sonne unterginge

Die Sonne stand tief und gleißend über dem Horizont, als ob sie nicht im Traum daran dachte, jemals unterzugehen. Der Zug legte sich kaum merklich in die Kurve, die Sonnenstrahlen kamen nun nicht mehr von der Seite, sondern von schräg vorne. Durch das kleine, dünne Wäldchen neben den Gleisen wurde das Licht in kurze, brutale Blitze zerhackt, doch Namensuchmann schloss nicht die Augen. Alle Spiegelungen, alle Muster und alle Echos seiner Gedanken und Erinnerungen wurden aus seinen Augen gekärchert, sammelten sich in kleinen Pfützchen und Rinnsalen in seinem Nacken und seinem Hemd. Beizeiten, so dachte er bei sich, werden die Rinnsale zu Staub und die Pfützen zu Asche verglimmen, ehe auch dieser Gedanke aus seinem Schädel gefegt wurde. Wäre er Epileptiker, so würde er sich nun vermutlich auf dem Boden des Waggons wälzen und könnte sich die Zugsitze von unten ansehen. Niemand weiß, wie Zugsitze von unten aussehen, selbst Nostradamus tappte hierbei völlig im Dunkeln.
Namensuchmann überlegte, die tiefstehende Sonne entweder anzujodeln oder anzubellen, aber ein plötzlicher Anfall von Übelkeit ließ ihn verstummen noch ehe er sich für eine Tonlage entschieden hatte. Licht, das über Welten zieht, über Menschen und Straßen hinweg. Man könnte vielleicht darauf balancieren, über gähnende Abgründe hinweg, so hoffte er. Drunten ein fernes Rauschen von tausendfachem Stöhnen und rhythmischem Platschen, wie Meeresbrandung an- und abschwellend.
Der Zug machte eine weitere Kurve, die stroboskopartigen Blitze kamen nun wieder von der Seite, ehe sie urplötzlich einer vollkommenen Düsternis wichen als der Zug in den Schatten der dichten Blockrandbebauung einfuhr. Dann der Bahnhof. Namensuchmann nahm sein Taschentuch aus seiner Tasche und tupfte sich die Mundwinkel trocken. Die Menschen auf dem Bahnsteig knurrten und jodelten und machten sich zum Sprung bereit.

Freitag, 11. November 2016

Monumente der Zeitgeschichte, schreiend im Weltall

Heute: Lady Liberty (beim Versuch, aufgrund eines manisch-depressiven Schubes Donald Trump aufzufressen, der zufällig auch im Weltall schwebt).
 

Mittwoch, 9. November 2016

Der kluge Hausmann weiß Rat.


Frage: Kluger Hausmann, ich möchte mir so viele Dinge sagen, doch was ich sage ist kaum zu hören, und ich verstehe so gut wie nichts. Nur manchmal glaube ich Namen herauszuhören, von Menschen oder Orten; wo ich gewesen bin, oder womöglich sein sollte. Dabei ist mein Gehör eigentlich noch tadellos. Woran könnte das liegen?

Kluger Hausmann: Hm, eine sehr ungewöhnliche Frage. Den meisten Menschen ist es nämlich herzlich egal, was sie zu sich selbst sagen. Ja, viele sind sogar froh, dass sie ihr eigenes Gesülze nicht verstehen. Warum interessierst du dich dafür?

...: Na hör mal, Kluger Hausmann, das ist doch wichtig! Wie sollte ich abends sonst wissen, was ich tagsüber erlebt habe? Und, vor allem, was ich morgen tun sollte? Und wenn ich mir selbst nicht zuhöre, wer denn sonst?

Kluger Hausmann: Das ist natürlich ein Argument, das nicht von der Hand zu weisen ist. Und es spielt ja auch keine Rolle, aus welchen Gründen du verstehen willst, was du zu dir selbst sagst. Tatsächlich habe ich bereits eine Vermutung, woran es liegen könnte.

...: Wirklich? Das ist ja toll, was ist der Grund?

Kluger Hausmann: Hast du schon einmal darauf geachtet, ob die Verstehbarkeit deiner eigenen Worte in irgendeiner Weise von deiner räumlichen Orientierung abhängt?

...: Ich kann mich eigentlich nie so richtig gut verstehen, egal ob ich sitze oder stehe.

Kluger Hausmann: Nein, ich meine, gibt es Unterschiede in der Klarheit deiner Worte in Abhängigkeit von der Himmelsrichtung, in die du sprichst?

...: Achso...hm...nicht dass ich wüsste, darauf habe ich noch nie geachtet. Allerdings....

Kluger Hausmann: Ja?

...: Einmal war Jahrmarkt, und ich fuhr auf einem dieser alten Pferdekarusselle. Da fiel mir auf, dass ich immer an derselben Stelle einige meiner Worte glasklar verstehen konnte. Durch die großen Lücken während der Umdrehungen ergaben sie leider keinen Sinn für mich. Es schien sich aber um eine dringende Anweisung oder ein wichtiges Vorhaben zu handeln.

Kluger Hausmann: Wie ich gedacht habe. Hast du schon einmal vom Großen Attraktor gehört?

...: Was hat George Clooney damit zu tun?

Kluger Hausmann: Eigentlich nichts. Es geht vielmehr um eine Gravitationsanomalie kosmischen Ausmaßes. Unsere Sonne ist einer von zweihundert milliarden Sternen unserer Galaxie, genannt Milchstraße. Unsere Milchstraße ist Teil der sogenannten Lokalen Gruppe, zu der auch die Andromeda-Galaxie und einige hundert Zwerggalaxien gehören. Die Lokale Gruppe ist ein Teil des Virgo-Haufens, der wiederum nur ein kleiner Teil des Virgo-Superhaufens ist. Und dieser Virgo-Superhaufen ist Bestandteil des noch größeren Laniakea-Super-Clusters. Und die ganze Chose wird vom sogenannten "Großen Attraktor" angezogen. Leider können die Astronomen diesen Attraktor nicht beobachten, da er sich, anders als George Clooney, ausgerechnet hinter unserer eigenen Milchstraße versteckt. Wir müssten durch die Milchstraßenebene hindurchschauen können, um ihn zu erforschen, was, jedenfalls im Moment, aber noch nicht möglich ist.

...: Und deshalb kann ich nicht hören, was ich mir sage?

Kluger Hausmann: Gemach. Es ist doch nur allzu logisch, dass ein Attraktor, der tausende von Galaxien mit ingesamt Billionen von Sternen anziehen kann, mit Worten und Gedanken noch viel schlimmer umspringt. Kaum gedacht, kaum gesprochen, werden sie einem quasi von den Lippen gerissen und ins Unendliche gesogen.

...: Das ist ja furchtbar. Aber was kann ich dagegen tun?

Kluger Hausmann: Wie ich bereits andeutete, kommt es auf die räumliche Orientierung an. Wenn du dich genauestens mit dem Hinterkopf zu diesem Attraktor positionierst, dann verlassen deine Worte zwar kurzfristig deine Lippen, werden vom Attraktor aber sofort wieder eingefangen und bewegen sich dann rückwärts wieder auf dein Gesicht zu, rasen durch deinen Kopf, treten am Hinterkopf wieder aus und begeben sich dann auf ihre Reise durch den Kosmos hin zum Attraktor, wo sie nach etwa dreihundert Millionen Jahren eintreffen. Während sie vom Attraktor durch deinen Kopf gesogen werden, kannst du deine Worte klar und deutlich hören. Aber dafür musst du, wie ich schon sagte, mit dem Gesicht in die genau entgegengesetzte Richtung schauen.

...: Jetzt verstehe ich. Wie wenn man gegen den Sturm spuckt, dann landet die Soße auch wieder im eigenen Gesicht.

Kluger Hausmann: Stimmt genau. 

...: Aber woher weiß ich, wo sich dieser Attraktor befindet?

Kluger Hausmann: Das ist einfach. Er befindet sich in Richtung des Sternbildes Skorpion, und wo sich das befindet, das sagt dir eine App wie z.B. "Heavens-above".

...: Vielen Dank, Kluger Hausmann, du hast mir sehr geholfen!

 

Freitag, 28. Oktober 2016

Prominente der Zeitgeschichte, schreiend im Weltall

Heute: Donald Trump (beim Versuch, das Universum zu beleidigen)



Montag, 24. Oktober 2016

Die Dinge der Welt liegen in einer bestimmten, unverrückbaren Ordnung. Zwischen den Dingen ist ein Schimmer, der irrrt durch die Dinge und zwischen den Dingen und über die Dinge hinweg wie ein banges Sehnen. Ein Schauen fast, ein Seufzen. Ich tauche im Schimmer, und ich tauche lang und weit, in der Erinnerung nur ein Hauch, eine Ahnung von Zeit.

Jetzt sollte ich eigentlich Schluss machen, doch es kommt noch die

Blastophobie die
Kürassierschule und
Krautsalat und

die Idee einer Erscheinung. Das Hoverboard auf einer Wolke aus kleinen Heiligen schwebend, von Zeit zu Zeit in ein Luftloch sackend. Draußen, weit draußen in der Dunkelheit, im Regen, wartet mein Fahrrad mit nassem Sattel. Mit feuchten Arschbacken gen Haustür wankend.

Strahlen an der Wand. Lichtstrahlen, buntes Schlangengezücht. Note to myself: Worte erfinden sinnlos, es gibt sie längst.

Sonntag, 23. Oktober 2016

Braunes Ledersofa

(Mit Sitzheizung für kalte, kosmische Nächte)

Freitag, 21. Oktober 2016

Vor dem Kino

Ein leckerer Cappuchino für einen Euro, edel und mit angenehmer Musik. Neueröffnungsangebot. 
Draußen dräut ein Würfel aus fahlem Licht, zwischen rosa und himmelblau changierend, durchsichtig, nur die Ecken und Kanten sind zu erahnen, groß wie die halbe Stadt. Oben, in der abendlichen Fast-Dunkelheit, stecken ein paar Flugzeuge fest, die im Landeanflug auf Tegel waren. Der Straßenlärm, der durch die offene Eingangstüre strömt, kümmert sich nicht darum. Er flieht andere Dinge.
Ich hatte das Feld des dinglichen Alltags betreten, der Schutzanzug etwas klobig, aber wirksam. Mit Löchern zwar, doch darauf kam es nicht an. Die Kanten des Würfels biegen sich etwas nach aussen, als stünde die ganze Erscheinung unter einem inneren Druck.
Das Ledersofa ist braun und bequem, in der Mitte der Sitzfläche löst sich eine Naht. Die Nacht steht bereit, von der großen Maschine in die Kammer geschoben zu werden. Sie scheint nicht sehr zuversichtlich, ich nehme sie bei der Hand. Durchscheinend und samtig, warm, ohne Gedächtnis, ohne ein Gebet.