Sonntag, 26. Februar 2012

Erwartung (Na sowas VII)




"Ist das der Abendstern, da oben?", fragte Karla und deutete fast senkrecht in den Himmel. Der rechte Jackenschoß wurde durch die Bewegung etwas emporgehoben und entblößte ihren Oberschenkel.


Ich lag immer noch auf dem Rücken und musste meinen Kopf überhaupt nicht bewegen, um in die Richtung zu schauen, in die sie deutete.

"Nein", sagte ich, "das ist Jupiter. So weit von der Sonne weg kann der Abendstern, also Venus, sich niemals aufhalten."

"Warum denn das?"

"Die Venus ist ja viel näher dran an der Sonne als die Erde. Stell dir einen großen Parkplatz vor mit einem Lagerfeuer in der Mitte, das ist die Sonne. Du selber, als Erde, wanderst in hundertfünfzig Meter Entfernung im Kreis um das Feuer. Dabei beobachtest du einen verrückten Indianer, der mit einer Friedenspfeife und einer Flasche Old Turkey ebenfalls im Kreis um das Feuer tanzt, aber viel näher dran, also auf einer viel kleineren Kreisbahn."

"Warum ein Indianer? Es könnte sich doch auch um einen Hausmeister oder einen Pädagogen handeln!"

"Ja, sicher. Aber der Parkplatz ist gigantisch. So große Parkplätze gibt es nur um diese Riesenmalls herum wie man sie in Amerika antrifft. Ich vermute, ich habe die Begriffe Amerika, Mall, Horizont und Feuer aus derselben Kiste geholt, in der auch das Wort Indianer noch drinnen war. Der ist dann einfach mit rausgeflutscht."

"Das ergibt einen gewissen Sinn."

Oha, dachte ich da bei mir. Hat sie nun den Anglizismus ´Sinn machen` absichtlich vermieden? Und wenn ja, warum? Weil es ihr ein inneres Bedürfnis war, oder um mich zu beeindrucken? Aber weshalb sollte sie mich beeindrucken wollen? Ich drehte den Kopf etwas zur Seite, um einen besseren Blick auf ihre Beine zu haben. Sie waren muskulös, aber nicht übermäßig. Leicht gebräunt. Etwas schimmerte darauf. Das war mir vorher nicht aufgefallen, als das Licht noch heller gewesen war. Winzige, kaum wahrnehmbare Reflexe. Ich verdrehte mich etwas, um in meiner liegenden Position einen größeren Überblick zu bekommen. Das Licht war jetzt sehr diffus, der Himmel dunkel und nur über dem westlichen Horizont war noch ein rötliches Glimmen wahrzunehmen. Ich richtete meinen Oberkörper auf und stützte mich auf einen Ellbogen. Jetzt war es klar. In dem Maße, wie der Himmel dunkler wurde, gewann die gefrorene Zeitschale unter uns an Helligkeit. Meine Augen waren durch das Hochschauen an die Schwärze des Himmels gewöhnt, jetzt wurde ich fast geblendet von dem strahlenden Weiß des erstarrten Atompilzes. Die mäandernden Fluktuationen des Zeithorizonts waren es, welche die Reflexionen auf den kaum sichtbaren blonden Härchen auf Karlas Beinen verursachten. Sie waren so fein und hell, dass ich ihre Beine unwillkürlich für rasiert gehalten hatte.
Nach etwa einer Minute kam ich wieder zu mir und merkte, dass sie mich anschaute. Ich wendete beschämt den Blick ab von ihren Beinen, obwohl ich genaugenommen nicht den Eindruck hatte, dass es sie störte. Ich legte mich wieder lang auf den Rücken.

"Was ist denn nun mit dem Indianer und dem Parkplatz?", fragte sie.

"Achso, ja, also Venus, der Abendstern, ist der Indianer, der viel näher um das Feuer tanzt als du. Wenn du zu ihm hinschaust, wirst du ihn aus deiner Perspektive also immer links vom Feuer sehen oder rechts davon oder irgendwo dazwischen. Aber niemals hinter dir, wenn du zum Feuer siehst. Du wirst ihn also niemals um Mitternacht über dir sehen, wenn du sozusagen mit dem Rücken zur Sonne stehst, die dann ja grade auf der anderen Seite der Erdkugel scheint."

"Das klingt logisch", meinte Karla, "dann ist für einen Beobachter auf der Erde der Winkelabstand des Abendsterns von der Sonne also vorgegeben durch seinen Bahnradius. Wie groß ist dieser maximale Winkel bei der Venus?"

Ich war beeindruckt. So schnell hatte das noch keiner verstanden, dem ich diesen Sachverhalt zu erklären versuchte.

"Die maximale Elongation bei der Venus beträgt 47°", sagte ich. "Das heißt, ist der Winkelabstand zur Sonne maximal, geht Venus ungefähr drei Stunden nach der Sonne unter. Manchmal dauert es auch ein wenig länger, da die Umlaufbahnen und Rotationsachsen alle mehr oder weniger gegeneinander gekippt sind. Aber 3 Stunden maximale Sichtbarkeit kommen ungefähr hin."

"Also ist die Venus, wenn sie sich vom Beobachter aus betrachtet links, genaugenommen östlich der Sonne befindet, Abendstern? Weil sie ihr dann am Himmel nachfolgt und nach ihr untergeht?"

"Genau!", rief ich begeistert und richtete mich wieder halb auf. "Und morgens ist es genau umgekehrt. Da eilt sie der Sonne voraus, weil sie sich rechts, das heißt, westlich von ihr befindet. Sie geht morgens vor der Sonne auf und ist dann ein paar Stunden sichtbar, bevor auch die Sonne aufgeht und die Venus in der Tageshelligkeit verblasst."

"Wie kann sie abends östlich der Sonne sein und morgens westlich von ihr?"

"Oh, entschuldige", stammelte ich. "Natürlich nicht am nächsten Morgen danach. Erst muss die Venus einmal halb um die Sonne herumgewandert sein, auf die andere Seite sozusagen. Daher ist die Venus immer etwa ein halbes Jahr lang Abendstern, dann, nach etwa einem Monat, ein halbes Jahr lang Morgenstern. Immer im Wechsel. Unsichtbar ist sie natürlich immer dann, wenn sie gerade entweder vor oder hinter der Sonne vorbeizieht."

"Hm", sagte Karla, "dann kreist Jupiter dort oben wohl ausserhalb der Erdbahn um die Sonne? ich bringe die Planetennamen immer durcheinander."

"Ja genau. Weil Jupiter weiter von der Sonne weg ist als die Erde kann er der Sonne am Himmel auch mal gegenüberstehen. Zum Beispiel im Osten aufgehen, wenn die Sonne im Westen untergeht, oder um Mitternacht hoch am Südhimmel prangen, wenn die Sonne tief unter uns auf der anderen Seite der Erdkugel scheint."

"Ich würde mich ja gerne noch weiter darüber unterhalten", sagte Karla, während sie ihren Blick über das Firmament über uns schweifen ließ. "Aber es wird Zeit!"

"Zeit? Wofür?" fragte ich verwundert.

Aber Karla antwortete nicht. Sie stand lediglich von ihrem Liegestuhl auf und kam die beiden Schritte zu mir herüber. Sie kümmerte sich nicht mehr um den korrekten Sitz der Jacke, die ich ihr geliehen hatte und die jetzt vorne weit aufklaffte. Sie stellte sich über mich und schaute zu mir herunter. Ich konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten, glaubte aber leichtes Interesse an mir erkennen zu können. Vielleicht war es aber auch nur allgemeines Desinteresse an den diversen Weltlinien, die hier oben kaum noch zu erkennen waren. Langsam ging sie über mir in die Hocke, ich hatte gerade noch genug Zeit, meine Hose aufzunesteln.

Ein leichtes Vibrieren drang an meinen Rücken, gefolgt von einem kaum vernehmbaren, aber seltsamerweise trotzdem sehr machtvollen "Pling" irgendwo tief unter uns. Ich spürte sofort die Beschleunigung. Winzig kleine Feuerbälle drangen um uns herum aus der Zeitrinde und stoben wie Silvesterraketen nach oben, leuchtende Farbspuren hinter sich lassend. Die Luft war erfüllt von statischer Elektrizität, Karlas Haare standen wild in alle Richtungen von ihrem Kopf ab. Der Himmel wurde so pechschwarz, wie ich ihn in tiefsten Nächten nie gesehen hatte, die Sterne hörten auf zu funkeln und strahlten ruhig und gelassen. Die Atmosphäre liegt also bereits unter uns, dachte ich mir. Egal. Da lag noch viel mehr. Ich hatte ihr nicht von dem Irren unter dem Stein erzählt. Jetzt war ich mir nicht mehr sicher, ob diese kleine Episode überhaupt stattgefunden hatte. Andererseits war sie meine letzte Erinnerung an ja was? Die Erdoberfläche?
Karla beugte sich etwas nach vorne, ihre Haarspitzen berührten mein Gesicht. Hinter ihrem Kopf, zwischen den Sternen, leuchtete ein einzelner blaugrüner Feuerball. Mit einem weiteren leisen Pling riss die Zeitschale, und das Licht trug uns davon.

Samstag, 4. Februar 2012

Mal sehen



Ich würgte. Ich spuckte. In meinem Kopf tobte eine Kakophonie dissonanter Töne. Dann wohlige Dunkelheit, der Radau ebbte ab und machte leisen Liedfetzen platz, die aus weiter Ferne in mein Hirn drangen. Als schliefe ich in einer kleinen Hütte oben auf den Klippen und drunten in der Bucht wird unter bunten Laternen eine Strandparty gefeiert. Je nach Windrichtung ist die Melodie mal leiser, mal etwas lauter, doch nie so laut, dass ich das Lied erkennen könnte. Ich stelle mir vor, wie der böige Wind die Flammen des Lagerfeuers peitscht und sie in alle Richtungen peitscht und lodern lässt. Ich möchte aufstehen und hinuntergehen, doch meine Glieder folgen nicht meinem Willen. Der Traumanteil an meinem Bewusstsein ist noch zu groß, und nur langsam dämmert mir, dass es gar keine Bucht gibt und keine Hütte. Nur eine zehn Kilometer große weiße Murmel unter blauem Abendhimmel. Ein in der Zeit gefrorener Atompilz.


"Ich bin Malerin. Künstlerin", sagte eine Stimme nicht weit von mir, "jedenfalls war ich das einmal".

Ich wollte die Augen öffnen, doch meine Lider waren schwer wie LKWs. Vielleicht sollte ich schreien, überlegte ich, aber mir war nicht nach schreien. Schließlich tat mir nichts weh und kein Monster bedrohte mich. Also wozu unnötig Aufmerksamkeit erregen? Die Situation war sowohl ermüdend als auch unbefriedigend.

"Vielleicht ist meine Arbeit schuld daran, dass ich jetzt hier bin. Sie muss schuld daran sein. Was sonst könnte mich in diese Lage gebracht haben? Ich habe nichts Aussergewöhnliches getan ausser meiner Arbeit. Also, so viel ist klar. Hm"

Jetzt wollte ich aufstehen und Fragen stellen. Ich erinnerte mich. Der Liegestuhl auf der Murmel, die angeblich ein Atompilz war. Auf dem Liegestuhl die nackte Frau, der ich meine Jacke lieh und die ich Karla nennen durfte. Ich konnte murren. Mehr ein Knurren. Schreien, geschweige denn reden, konnte ich nicht. Ich konzentrierte mich auf meinen rechten kleinen Finger. Nein, lieber den Zeigefinger. Er bewegte sich. Dachte ich jedenfalls. Wozu sich eigentlich bewegen, wenn es ohnehin nichts zu tun gab? Ich beschloss, meine Anstrengungen aufzugeben und einfach abzuwarten, bis ich richtig und sozusagen von alleine, durch einen natürlich Lauf der Dinge, aufwachte.

Etwas stubbste mich in meine Seite. Es war weder unangenehm hart noch zärtlich weich. Aber es konnte stubbsen, und das gleich zweimal. Mein Traumbewusstein zerbarst wie eine Seifenblase im Ascheregen. Ich war wach, konnte meine Augen öffnen, meinen Kopf drehen, meine Hände bewegen.

"Na, endlich wach?", fragte sie.

"Hmm...mmm"

"Bist du irgendwie krank? Das hörte sich gar nicht gut an eben"

"Nein, ist alles in Ordnung, so wache ich immer auf. Wie lange habe ich geschlafen?"

Ich erinnerte mich, wie ich von dem Liegestuhl aufgestanden war und mich auf die mattweiße Zeitfläche, die den gefesselten Atompilz umschloss, gelegt hatte. Ich musste sofort eingeschlafen sein.

"Schwer zu sagen, höchstens fünf Minuten", sagte Karla achselzuckend.

Da ich immer noch auf dem Rücken lag, ließ ich erstmal den Abendhimmel auf mich wirken. Er war nun fast schwarz und mit meinen alten Bekannten übersät. Seltsam, dachte ich, die Dämmmerung scheint viel weiter fortgeschritten zu sein als nur fünf Minuten. Ich sah zu Karla hinauf. Sie hatte sich leicht vorgebeugt und fuhr mit ihren Händen massierend ihre Schienbeine auf und ab, fast wie in Trance. Ich sollte sie nach dem seltsamen Alten fragen, dachte ich bei mir. Und woher der Liegestuhl stammte, warum sie keine Kleidung trug ausser meiner Leihjacke und warum sie nicht primatenmäßig auf den Boden trommelnd umhertanzte ob der grandios absurden Situation, in der wir steckten. Dabei war alles so einfach. Unten der Atompilz, oben der Himmel. Dazwischen wir beide. Banaler ging es fast nicht mehr.


Donnerstag, 2. Februar 2012

Erde an Moves



Draußen weht der Ostwind feinen Schneestaub vom Dach,
in weißen Geisterwolken wirbelt er am Fenster vorüber

Ich denke in Sternen
und fühle in Monden