Sonntag, 20. November 2016

Morgendämmerung

"Für ein Photon existiert keine Zeit. Wenn man sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegt, steht die Zeit still. Es gibt Photonen, die schwirren seit Anbeginn des Universums durchs All, aus der Perspektive eines Menschen auf der Erde schon fast 14 Milliarden Jahre lang. Fängt man eines mit einer Antenne auf und könnte man es fragen, wie lange es denn schon unterwegs ist, so würde es, vermutlich mit einem glockenhellen Stimmchen, wispern: `Wieso, ich bin doch gerade eben erst losgeflogen!´
Ein Raumfahrer, dessen Raumschiff binnen Sekundenbruchteilen auf  Lichtgeschwindigkeit beschleunigen könnte, wäre in der Andromedagalaxie kaum dass er den Startknopf gedrückt hätte. Auf der Erde wären derweil zweieinhalb Millionen Jahre vergangen."

"Das glaube ich alles nicht", sagte der Hammerhai genervt und rollte seine einen Meter weit auseinanderstehenden Augen, "das ist doch Mindfuck"!

Niemand beachtete ihn. Von oben sickerten blinkende Lichtreflexe herunter und tauchten das Auditorium in ein surreales Licht. Eine Art Schwirren wie von Millionen Libellenflügeln huschte über Gesichter, Pulte und Bänke. Die Lichtstrahlen, deren Photonen keinerlei Zeitempfinden hatten, stachen durch Bäume und vorbei an Dächern und Kirchtürmen. Meilen von sattsam ruhenden Gewerbegebieten breiteten sich unter dem Lichtfächer zu einem Ozean der beklommenen Ekstase; die Ekstase des prosperierenden Wohlstandes im Angesicht einer taumelnden Erde. Der Hammerhai beschwerte sich: "Die Türen sind viel zu schmal für mich. Ich muss mich immer zur Seite drehen, wenn ich eintreten möchte."

"Du kannst nicht eintreten, du kannst höchstens einschwimmen."

"Oha, seit wann duzen wir uns denn?"

Namensuchmann wachte auf und tastete nach dem Glas Wasser, das er jeden Abend auf den Nachttisch stellte bevor er zu Bett ging. Die Morgendämmerung hatte noch nicht eingesetzt, die Nacht war noch pechschwarz, obwohl ein lausig mitgenommener Mond tief über dem Westhorizont hing. Der Morgen war noch weit entfernt, und das war gut so. Zeit, die Gedichte zu rezitieren. 

(Der Hammerhai und eine ältere Dame aus dem Publikum wälzen sich plötzlich keuchend und schwer atmend auf dem Boden, dumpfe Schläge, nasses Patschen und spitze Quieker sind zu hören. Sie stoßen einen Tisch mit Infomaterial um, die große weiße Tischdecke landet wie ein Zelt auf den beiden Protagonisten. Darunter ist es plötzlich ruhig.)




2 Kommentare:

Alessa hat gesagt…

Sehr schön <3

Moves hat gesagt…

Danke :-)