Sonntag, 10. Oktober 2010

Hoch auf dem gelben Wagen



Das Jahr rast wie von Sinnen auf sein Ende zu. Doch der Kutschbock ist viel zu hoch um herunterzuspringen. Also bleibt nichts zu tun als alibimäßig etwas an den Zügeln zu zerren und zu rucken und mit der Gerte auf das Jahr einzuschlagen, was seltsame flupp-flupp-Geräusche verursacht. Es scheint dem Jahr jedoch nichts auszumachen, es trotzt und leidet eher fischig, doch nach wie vor rasend und irre vor Geschwindigkeit.
Auf der gefährlich schwingenden und schlingernden Deichsel hat sich ein seltsames Schleimwesen niedergelassen, durchsichtig, doch mit grünen und blauen Schlieren durchsetzt, die in undeutbaren Mustern mäandern. Jetzt formen die grünen Schlieren einen verblüfften, offenen Mund. Die blauen scheinen ein Dreieck zu bilden und Quadrate.

"Vermutlich der Satz des Pythagoras", sagt eine Stimme neben mir.

"Passagieren ist der Aufenthalt auf dem Kutschbock untersagt!", belle ich der Gestalt neben mir ins Gesicht, während ich wichtigtuerisch an den Zügeln zerre.

Die Gestalt ist ein Typ, etwa halb so alt wie ich aber doppelt so gut aussehend, schlank und vollkommen nackt. Seine kurzen braunen Haare sind gerade lang genug um noch im Fahrtwind zu flattern. Er hat Mühe, sich festzuhalten, und offensichtlich gehörigen Respekt vor der Höhe und der Geschwindigkeit. Ich frage mich, wie er es überhaupt geschafft hat, während der Fahrt hier hochzukommen.

"Die anderen haben mich heraufgeschickt um aufzupassen, dass Sie nicht abspringen", sagt er fast entschuldigend und als ob er meine ungestellte Frage gehört hätte.

"Tun Sie immer, was andere von Ihnen verlangen?"

"Einer musste es ja tun. Wir haben gelost; ich habe verloren." Seine Stimme scheint mir etwas unsicher. Hat er etwa Angst? Vor mir oder davor, selbst herunterzufallen?

"Und wieso haben Sie nichts an?" frage ich nun und mustere demonstrativ seine Nacktheit.

"Es ist verboten, auf dem Kutschbock Kleidung zu tragen, das wissen Sie doch!" sagt er mit einem verständnislosen Unterton, den ich als eine Spur zu unverschämt empfinde.

Doch dann sehe ich an mir selbst hinab und mir wird plötzlich bewusst, dass auch ich keinen einzigen Faden am Leib trage. Vor Schreck, aber mehr noch aus schierer Überraschung fallen mir beide Zügel aus den Händen und flattern nun vor meinem Gesicht in der Luft.

"Verdammt!", stoße ich hervor und beginne unwillkürlich, mit der Peitsche auf meinen Sitznachbarn einzuschlagen. Aufgrund seiner Nacktheit ist er meinem Angriff schutzlos ausgeliefert. Er versucht, mit seinen Händen und Armen sein Gesicht zu schützen, entblößt dabei jedoch andere empfindliche Teile seines Körpers. Obwohl ich es nicht beabsichtigt habe, treffe ich trotzdem mehr als einmal auf seinen Unterleib, woraufhin er seine Arme senkt und nun sein Gesicht entblößt. Gleichzeitig versucht er, sich von mir wegzudrehen, doch um eine Winzigkeit zu weit. Er verliert den Halt und kippt vom Kutschbock hinab in den Fahrtwind. Ich höre keinen Schrei. Ich sehe nach hinten, aber nichts ist zu sehen. Nur grau-weisses Gewaber. Mit einiger Mühe gelingt es mir, die Zügel wieder zu fassen. Ich klemme beide in meine linke Hand und drehe mich nach hinten. Mit dem Knauf meiner Peitsche hämmere ich auf das Dach der Kabine ein, die sich schräg hinter und unter dem Kutschbock befindet. Dann schreie ich:

"Will noch jemand hochkommen?"

Keine Reaktion. Ausser dem Brausen des Fahrtwindes in meinen Ohrmuscheln ist kein Laut zu hören.
Die Schlieren in dem Schleimwesen zucken jetzt aufgeregt.



Keine Kommentare: