Sonntag, 18. August 2019

Flußgedanken

Die Tage werden im Dutzend weggelebt und dann, zu handlichen Paketen geschnürt, in nach Mottenkugeln duftende Regale gestellt. Man kann auch Mauern damit bauen. Hierfür presst man immer zehn Tage zu einem handlichen Mauerstein. Je luftiger und leerer die verwendeten Tage, desto kleiner ist der Wärmeleitkoeffizient des fertigen Steins, das heißt, desto besser ist später die Isolationswirkung der Mauer gegen unerwünschte Energieverluste.

„Sei doch nicht immer so negativ“, brüllt das Gesicht in der Wand. Früher trug es einen großen Rauschebart, doch den schlug ich irgendwann mit Hammer und Meißel ab. Ich war allerdings nicht sonderlich akkurat, jetzt sieht es aus wie Jürgen Prochnow oder Charles Bukowski.

„Sag doch mal was Witziges!“

Ich suche nach dem lustigen Reim, den ich mir aus dem Land mitgebracht hatte, in welchem jedes Wort tausende von Tonnen wiegt. Schon kurze Sätze bringen Erdplatten zum Abtauchen und verursachen ihr eigenes Mikrowetter. Doch ich fand nur noch eine kleine Mulde, der Reim hatte sich längst auf den Weg ins Erdinnere gemacht.

Die Liebe - oder war es ihre kleine Schwester, die Trauer? - die da auf dem riesigen Schubverband liegend auf dem Fluß vorüberzog, ließ träge, fast wie betäubt, ihre langen, dünnen, weißen und blaugeäderten Arme ins trübe Wasser baumeln. Vermutlich schleiften ihre Hände unten über den Flußgrund, allerlei Müll und Schrott aufsammelnd. Aber der sonore Ton des Schiffsdiesels in Verbindung mit dem wohlig blubbernden Auspuff zeugte von genug Kraft und Vortrieb, um trotzdem erfolgreich gegen die Strömung vorwärts zu kommen. In der Ferne lag die Biegung, wo der Fluß hinter einem malerischen Felsen verschwand.
Der Schubverband mit dem riesigen, bleichen Körper hatte nun etwas zu kämpfen, bis er um die Kurve herum war. Ein langer, verknorpelter Fuß war auf der Ferse nach außen gekippt und nun schrammte eine gigantische Große Zehe am Fels entlang. Steinbrocken lösten sich und polterten zuerst auf die Uferstraße und platschten dann ins Wasser. Menschen auf dem Weg zum Klosterbiergarten filmten das Spektakel mit ihren Smartphones und machten Selfies mit Viktoryzeichen.
Es war wohl die Liebe, und nicht die Trauer. Ihr gefesselter Blick traf mich in allerletzter Sekunde, bevor ihre müden Augen, groß wie Mülleimer, hinter der Biegung verschwanden. Noch immer waberten die Abgasschwaden in der Luft.

„Da ist schon viel Schönes dabei“, meinte das pockennarbige Gesicht an der Wand gönnerhaft, „nur der Vergleich mit dem Mülleimer hätte nicht sein müssen. Müll und Liebe in einem Satz, das werden viele nicht verstehen.“

„Aber dass die Liebe lange, dünne, weiße und blaugeäderte Arme hat, die über die Bordwand ins Wasser hängen und deren Hände über den Flußgrund schleifen und sich alte Fahrradfelgen wie Eheringe auf die Finger schieben, das verstehen die Leute?“

„Ja klar, warum nicht?“



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