Donnerstag, 24. Juni 2010

Schattenspiel



Das Wetter ist klar und weit. Blauer Himmel, der auf Wasser trifft. Namensuchmann blickt neben sich auf den grauen Waschbetonfußboden der Aussichtsterrasse, darauf Licht- und Schattenflecken, torkelnd und flirrend.
Namensuchmann verliert Substanz. Wie in warmer Dünung schwankende Anemonen schweben Protuberanzen seines Selbst über ihm gen Himmel, fingernd und tastend, mit zunehmender Höhe durchsichtiger werdend, dann ganz verschwindend, in unsichtbarem Höhenwind.
Direkt über Namensuchmann sind die Schlieren aber noch dick und schwarz und lebendig, anmutig fast. Abendsonne steptanzt durch die sich windenden und fließenden Zwischenräume, tuscht patchworkiges Chaos auf den Beton. Doch die gaukelnden Beugungsmuster aus Licht und Schatten wie unter windzerzauster Baumkrone sagen ihm nichts. Kein Laut begleitet den Tanz, kein Blätterdach rauscht und raschelt.
Keine Worte, keine Namen.
Namensuchmann kontrolliert die kleine Videokamera, die akkurat auf ihrem kleinen Stativ montiert die Protuberanzenschatten aufzeichnet

"Ich gesellte mich zu den Lebenden, doch sie schöpften keinen Verdacht"

Namensuchmann erschrak. Er hatte den Fremden nicht kommen gehört, so sehr war er mit der Kamera beschäftigt gewesen. Er wendete den Kopf und blinzelte nur ganz kurz, weil der Fremde genau vor der Sonne stand. Doch es genügte. Als er die Augen wieder öffnete, war es tiefe Nacht und der Vollmond stand tief im Süden. Bleich und seltsam bedeutungsschwer wegen seiner ungewöhnlich tiefen Stellung. Aber das war nichts wirklich Bedrohliches um diese Jahreszeit, überlegte Namensuchmann unwillkürlich. Denn je höher die Sonne tagsüber am Himmel steht, desto niedriger ist die größte Vollmondhöhe um Mitternacht.
Der Fremde stand immer noch an derselben Stelle, aber nur schwach erkennbar in der Dunkelheit der Nacht. Das Mondlicht genügte gerade noch, um seine mittelgroße Statur zu enthüllen, mit einem Anschein von lockigem Haar um das dunkle Gesicht.

Die schwarzen Protuberanzen waren vor dem nun fast schwarzen Himmel nicht mehr zu erkennen. Namensuchmann versuchte zu erspüren, ob er immer noch Substanz verlor, aber so sehr er sich auch konzentrierte, er vermochte es nicht zu sagen. Er suchte nach Sternen, deren unregelmäßiges Verlöschen und Aufleuchten auf den Durchgang eines mäandernden Protuberanzenastes hindeuten könnte, doch ohne Erfolg. Die Sterne waren zu schwach und kaum zu sehen, sie wurden überstrahlt vom warmen Vollmondlicht, das aber offensichtlich nicht genügte, um Reflexe oder einen Widerschein auf einer Protuberanz hervorzurufen.

"Die Lebenden sind gefährlich", sagte Namensuchmann abwesend, während er weiter nach oben blickte.

"Nicht, wenn man sie in Ruhe lässt und sie einen nicht bemerken", meinte der Fremde.

"Wieso ist es plötzlich Nacht?", wollte Namensuchmann wissen.

Der Fremde schien die Frage nicht gehört zu haben. Er blickte auf eine Stelle am Himmel, die direkt über Namensuchmann zu liegen schien.

"Sie verlieren Substanz", sagte er.

"Ja, ich weiß. Aber ich glaube, der Materieverlust ist nicht so gravierend wie es aussieht". Namensuchmann versuchte, überzeugend zu klingen und blickte erneut nach oben. Er konnte keine Protuberanzen erkennen. Entweder hatte der Fremde geheimnisvolle Nachtsichtfähigkeiten, oder er verfügte über einen besonderen Sinn, oder er log. Oder er phantasierte. Oder er war nicht real.

"Was wollen Sie von den Lebenden?", fragte Namensuchmann, während er seine Kamera vom Stativ nahm und auf dem Display die Aufnahme kontrollierte, die er bis vor wenigen Augenblicken bei hellem Tageslicht aufgezeichnet hatte. Jetzt, im dunklen Schimmer dieser sonderbaren Vollmondnacht, verlieh das Leuchten des kleinen Monitors seinem Gesicht einen fahlen bläulichen Schein. Die Aufnahme war brauchbar. Später würde er sie sich in Ruhe rückwärts ansehen.

"Die Menschen riechen so gut. Leider nicht alle, nur einige wenige. Die muss man suchen."

"Ich suche auch etwas. Einen Namen"

"Ich weiß"

"Woher?"

"Du bist Namensuchmann"



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