Mittwoch, 4. Januar 2012

Na sowas (IV)

Beim Hinsetzen auf den Liegestuhl hatte ich nicht bedacht, dass sich Karla damit nicht mehr in meinem direkten Blickfeld befand, was ich sehr schade fand. Wie ein romantisches Liebespaar schauten wir nun in eine gemeinsame Richtung, in der es nur leider nicht viel zu sehen gab. Bloß den nahen Horizont des gefrorenen Atompilzes, dahinter der zunehmend erdunkelnde Abendhimmel mit Venus im noch sternenlosen Nichts. Ich überlegte, was ein normal denkender Mensch in einer solch unvorhergesehenen, ja unverhofften Situation tun würde. Vor meinem inneren Auge erschien ein flüchtiger Bekannter, der in der Immobilienabteilung der Raiffeisenkasse arbeitete. Was würde er wohl tun, wenn er Feierabend machte, aus der Tür seines Büros trat und sich plötzlich alleine mit einer schönen nackten Frau auf einem Atompilz wiederfand? Ich wurde nervös, mir fiel keine Lösung ein. Vielleicht wäre es ratsam gewesen, den Irren nicht unter dem Stein zu begraben. Womöglich war er eine Inkarnation des Universums selbst, das jetzt plötzlich stillstand ob meiner brutalen Attacke. Dabei hatte ich doch nur in Notwehr gehandelt, gewissermaßen. Aus einer Stresssituation heraus.
Ich hatte Karla etwas gefragt. Jetzt fiel mir wieder ein, dass sie noch nicht geantwortet hatte. Stattdessen zog sie die Schoßzipfel meiner Jacke enger um sich und ein Stück weiter über ihre Oberschenkel. Ihre Knie berührten sich fast. Ich schätzte, dass der Zwischenraum etwa drei Millimeter betrug. Oder auch fünf. Es war schwer zu sagen aus meiner Perspektive. Ich überlegte, wieder aufzustehen und vor sie hinzuknien, um den Abstand genauer abschätzen zu können und dabei auch gleich herauszufinden, wie es zu diesem kleinen Abstand kam, warum sich die Knie nicht ganz berührten. Nach reiflicher Überlegung fasste ich den Entschluss, dass eine solche Unternehmung im Augenblick wohl doch nicht angebracht ist. Ihre nackten Füße ruhten auf der milchig weißen Oberfläche der Zeitmembran. Ich versuchte es mit einer anderen Frage:

"Ist Ihnen nicht kalt? Sie haben doch bestimmt kalte Füße?"

"Nein, der Boden ist nicht kalt. Fühlt sich eher warm an"

Ich legte meine Hand auf den glasigen Boden mit den zart mäandernden Farbschlieren darin, etwa drei Zentimeter von ihrem linken Fuß entfernt. Sie zog ihn nicht zurück. Ihre Zehennägel waren lackiert, aber nicht auffällig. Ein dezenter rosa glänzender Schimmer verlieh den Nägeln eine gepflegte Durchsichtigkeit.
Die spiegelglatte Oberfläche, auf der wir uns befanden, war wider Erwarten nicht kalt wie Glas.


"Hm....", sagte ich.

"Was ist das Letzte, an das Sie sich erinnern können, bevor Sie hier auf diesem ... Ding ... zu sich gekommen sind?" fragte sie.

"Ich kann mich an alles erinnern", sagte ich. "Ich war nie bewusstlos. Sie etwa?"

Karla räusperte sich. Die Frage schien ihr unangenehm zu sein. Schließlich antwortete sie doch:

"Ich kam zu mir, als mich der alte Mann wie einen Sack auf seinen Schultern hier zu diesem Liegestuhl trug. Ich kam zu mir und fing an, auf ihn einzuprügeln, bis er mich runterließ. Wie sich herausstellte, war er harmlos. Er schrie mich an, er habe mich einige hundert Meter entfernt von hier liegen sehen und sich wegen des dort schon sehr starken Gefälles Sorgen um mich gemacht."

"Er schrie Sie an?"

"Ja, er war fast taub. Schwerhörige Menschen schreien immer. Sein Hörgerät schien kaputt zu sein"

Ich überlegte, woran mich diese Geschichte erinnerte, doch ich kam nicht darauf. "Und dann?"

"Gerade, als wir den Liegestuhl hier erreicht hatten und er mich runterlassen wollte stolperte er über seine blöden Badelatschen."

Ich stützte meinen Kopf in meine Hände und massierte die Schläfen. Zu Hause saßen jetzt mein Engel und sein Zombie bestimmt vor dem Fernseher und schauten sich das Schneegestöber an, das man sieht, wenn man den Antennenstecker zieht. Das war ihr Lieblingsprogramm. Manchmal leistete ich ihnen dabei Gesellschaft. Ich stand auf und ging ein paar Schritte.

"Blaue Badelatschen?", fragte ich.

"Ja"

Keine Kommentare: