In dem amerikanischen Filmklassiker „Charade“ kämpft Cary Grant auf dem Dach eines Hotels gegen Herman, seinen Widersacher, gespielt von dem hünenhaften George Kennedy. Nach einem gehörigen Schlagabtausch rutscht Kennedy auf dem Bauch, Füße voran, das Dach hinunter. Während er sich der Kante nähert, schaut er mit einer Mischung aus Wut und Entsetzen zu Cary Grant hinauf (er wird nicht hinunterfallen, er bleibt mit seiner künstlichen Hakenhand an der Dachrinne hängen).
Genau so sehe ich das Ende dieses Jahres. Es rutscht immer schneller der Kante entgegen; nur einen Augenblick noch, dann wird es plötzlich ausser Sicht sein und für einen langen Herzschlag lang wird es plötzlich sehr still sein hier oben auf dem Dach mit der beim Kampf zerdepperten Leuchtreklame. Unwillkürlich werde ich den Atem anhalten und auf den Schrei warten. Den Angstschrei eines in die Vergangenheit fallenden Jahres, in einen Abgrund ohne Boden.
Ich übertreibe. Noch nie hat ein Jahr geschrien beim Absturz, noch nie ist eines an der Dachrinne hängengeblieben wie Herman, denn Jahre haben keine künstlichen Hakenhände. Es gab Jahre, die verschwanden lautlos, und es gab Jahre, die jodelten wie eine irre Hellwig während des unaufhörlichen Falls in diesen Abgrund, der irgendwo dort unten, jenseits der Dachkante, beginnen musste. Es gab Jahre, die brüllten mir noch Gebete zu, und es gab Jahre, die schienen sich im letzten Augenblick noch zu fangen, nur um sich dann mit einem Extrasalto in hohem Bogen zu verabschieden. Jahre, die weinten. Jahre, die ungläubig starrten. Jahre, die vor dem eigentlichen Fall schon von einer Böe erfasst und einfach fortgeweht wurden. Jahre, die hinterließen eine breite Blutspur auf dem Dach, und Jahre, da stank es hinterher nach Urin.
In einem guten Zeitreisefilm versucht der Held, in die Vergangenheit zu reisen, um dort seine Geliebte vor einem sinnlosen Tod zu bewahren. Aber er kommt immer zu spät, egal was er tut, egal wie verzweifelt er an der Zeitkoordinatenmaschine herumbastelt. Etwas kommt immer dazwischen. Jeder Versuch endet mit einer Großaufnahme der gebrochenen Augen der Geliebten.
Zeitsprünge sind fast so etwas wie Zeitreisen. Ein Jahr fällt über die Kante, mit riesigen, entsetzten Augen mich anstarrend. Ich warte eine Minute, lasse meinen Blick über das Gerüst der beim Kampf zerstörten Leuchtreklame schweifen und würde mir gerne eine Zigarette anstecken, wenn ich rauchen würde und Zigaretten dabei hätte. Aber ich rauche nie, und ich habe auch keinen Flachmann dabei mit einem guten Whisky. Wo war nochmal der Weg hinunter, die Treppe in die Welt, in die Hotelbar womöglich? Doch im nächsten Moment tobt schon der Kampf mit dem nächsten Jahr, wo kam das her? Fäuste fliegen, Eisenstangen werden geschwungen, treffen auf Knochen und Geländer.
Dann ein entsetzter Blick, ungläubig, mit großen Augen mich fixierend, während es über die Kante rutscht. Bang Boom, große Augen. Jodeln. Die Nacht beginnt zu flackern, Jahre wie aus dem Maschinengewehr. Das Mündungsfeuer entzündet die Netzhaut, der Feinstaub der Patronen legt sich auf Gletscher und Lungenbläschen.
Herman musste übrigens später im Film doch noch sterben, er war nämlich gar nicht der wahre Bösewicht, das war ein anderer, und Herman starb in der Badewanne.
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