Dienstag, 3. März 2020

Namensuchmann fährt mit der DB

"Nein, sag das nicht", wisperte die Ameise.

"Es ist beschlossen", sagte Namensuchmann, "morgen..."

Ein lauter Knall wie ein Paukenschlag, nur tausendmal stärker, durchdrang die Welt. Sie erschauderte und zitterte wie ein kleines Reh im Angesicht des Mähdreschers. Die kleine Ameise blickte entsetzt in den Himmel, der glutrot und von schwarzen Schlieren durchzogen ebenfalls ruckte und zuckte. Es war ein Zittern und Rucken in der Welt, als ob sie etwas sehr schreckliches gesehen hätte und nun stumm zu schreien versuchte.

"Ihren Fahrschein bitte", sagte der gemütliche Schaffner und wartete geduldig, bis Namensuchmann von seiner Traumwelt heruntergestiegen war. Namensuchmann reichte ihm die kleine bedruckte Pappe. Sie war so hart und dick wie ein Metallplättchen. Da merkte Namensuchmann, dass er noch immer in einem Traum gefangen war. Solche Fahrkarten gab es schon seit vierzig Jahren nicht mehr. Oder waren es fünfzig? War er damals überhaupt schon auf der Welt? In der Pappfahrkartenzeit? Wie alt war er eigentlich genau? Es fühlte sich an, als wäre er schon immer in dieser Welt, als wäre er genau so alt wie die Welt selbst. Uralt.

Der gemütliche Schaffner blieb. Und wartete geduldig. In den sechs Sekunden, die Namensuchmann brauchen wird, um ihm sein Handy mit dem Code hinzuhalten, war noch mehr als genug Zeit um weiterzuträumen.

Namensuchmann erinnerte sich an einen bilderbuchmäßigen, sonnigen Herbstnachmittag unter den Trauerweiden am Fluß. Eine Bank stand in der warmen Nachmittagssonne, darauf lag Namensuchmann und träumte, während Menschen unten am Ufer auf ihren Decken lagen und ab und zu ins Wasser wateten um eine kleine Runde am Ufer entlang zu schwimmen.

Das Nebengleis blitzte wie blankgewienert in der Sonne. Stahl. Unbegreifliche Mengen von Stahl, abgebaut, transportiert, erhitzt, verhüttet, geschmiedet, wieder transportiert und verlegt. Auf Betonschwellen, die wieder abgebaut, transportiert, gemahlen, erhitzt, gebrannt, mit Wasser vermischt, geformt und wieder transportiert und verlegt werden mussten. Doch wozu? Um Fleisch von einem Ort zu einem anderen zu transportieren? Namensuchmann schüttelte sich. Er dachte lieber an den Sand, der bei Notbremsungen vor den Zugrädern auf die Schienen gestreut wird um die Reibung zu erhöhen. Wie groß war der entsprechende Vorratsbehälter? Ließ man den Sand herausrieseln oder wurde er gesprüht? Gepustet? Was befand sich unter den Gleisen? Gab es da noch Wurzeln? Wo waren nun die Menschen, die all das vollbracht hatten vor fünfzig Jahren? Oder hundert?

Noch zwei Sekunden, ein Instant-Traum hat noch Platz. Eine Ameise, von ihrem Stock getrennt, blickt ängstlich in den Himmel. Was war ihr widerfahren? Wo waren die anderen? Was hatte Namensuchmann zu ihr gesagt? Morgen, da wird es geschehen. Noch eine Sekunde.

Eine Sekunde, in der nichts geschieht. Fast, als stünde die Welt still. Der gemütliche Schaffner wartet auf Namensuchmanns Handy, um den Code zu scannen. Doch vorher ruckelt und klemmt die Zeit, verhakt sich, Teile fallen übereinander, blockieren die nachfolgenden. Ein Erstarren und Gefrieren greift knackend und knisternd um sich. 

Die Ameise und Namensuchmann sehen sich an. Fast ist es wie ein Erkennen.


 

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