Donnerstag, 26. März 2020

Der Haremsplanet

Eine Einleitung. Ein Königreich für eine Einleitung!

"Einleitungen werden überbewertet. Es sei denn, es handelt sich um die Einleitung von Gülle in den nächsten Bach. Das wäre dann ein Fall für die Staatsanwaltschaft."

Guter Punkt. Gülle. Ich könnte Gülle in diesen Blog einleiten und warten, bis die Posts mit ihren hellen Bäuchen nach oben durchs Layout treiben. Wie bequem man sie sich dann greifen könnte. Endlich vorbei die Zeiten, wo man sie kaum erblickt hat und schon sind sie hinter dem nächstbesten, von Phrasen ummurmelten Wortgetüm verschwunden. Nur die Hand, die würde dann natürlich nach Gülle duften.

"´Ummurmelt`gefällt mir. Erinnert mich an Rilke: `Meine Stille ist die eines Steines, über den der Bach sein Murmeln zieht´."

Ich bin Rilke-Fan, na und? Ich mag auch Kafka. Diese beiden halten mich im Gleichgewicht, während vorne und hinter mir flüchtige Schatten aus den Wolken nach unten fallen. Manchmal rede ich mir ein, ich sähe darin die Konturen von schlanken Raubvogelschwingen im Sturzflug. Aber in Wahrheit sind es natürlich weit ausgebreitete, fuchtelnde Arme. Den Ton schalte ich bei diesen Visionen immer ab.

"Das ist sehr vernünftig. Aber worum geht´s eigentlich hier? Oben las ich etwas von einem Haremsplaneten. Das klingt doch zumindest frivol. Bin gespannt."

Ach nein, es geht nur um die Venus, den Planeten der Liebe. Er ist zur Zeit Abendstern und schon kurz nach Sonnenuntergang nicht zu übersehen, der hellste und erste Stern am Himmel. Man muss nicht einmal sagen, in welche Himmelsrichtung man schauen soll, man dreht sich einfach einmal um sich selbst, und irgendwann sieht man ihn (hoch im Südwesten).

Wegen ihres Glanzes war die Venus in fast allen Kulturen der Göttin der Liebe gewidmet.  Bei den Sumerern hieß sie Iuanna, bei den Babyloniern Ishtar, bei den Ägyptern Isis, bei den Arabern Al-Uzza, bei den Phöniziern Astarte, bei den Griechen Aphrodite und bei den Römern schließlich Venus. Die Germanen sahen in Venus die Göttin Freya, auch für Liebesdinge zuständig, und widmeten ihr den Freitag. Oder wer immer später für die Benennung der Wochentage zuständig war. Die Franzosen machten daraus ihren Vendredi.

Nur bei den Indern steht die Venus für einen männlichen Gott. Für Sukra, der Glänzende. 

"Warum wundert mich das jetzt nicht?"

Hüstel....also, die Venusoberfläche ist unter einer perfekten weissen Wolkenhülle verborgen. Kein noch so gutes Fernrohr kann sie durchdringen. Erst, seit man zahlreiche Sonden hingeschickt hat, welche mittels Radarabtastung die Oberfläche kartierten, weiß man mehr darüber. Es gibt Berge, Krater, erloschene Vulkane und Lavakanäle, eben alles, was man so als Planet braucht.

"Schön, da gab es ja dann eine Menge Namen zu verteilen." 

Genau. Es war ein Fest für Namensverteiler. Allerdings hat die IAU, die internationale Vereinigung der Astronomen, beschlossen, ausschließlich weibliche Namen zu verwenden. Entweder aus der Mythologie oder von verstorbenen Wissenschaftlerinnen und Künstlerinnen.

"Nun bin ich aber gespannt, wann die Kurve zum Haremsplaneten kommt."

Natürlich gilt auch hier: keine Regel ohne Ausnahme. Es gibt eine einzige Geländeformation, die zu Ehren eines Mannes benannt wurde, nämlich der Maxwell Montes, nach James Clark Maxwell, ein schottischer Physiker des 19. Jahrhunderts. Natürlich wurde ihm kein x-beliebiges Dreckseinschlagsloch gewidmet, sondern die höchste und mächtigste Gebirgsformation auf der Venus. So wie es sich gehört.

"Verstehe."


(Quelle: Hans Ulrich Keller, Kosmos Himmelsjahr 2020)




Montag, 23. März 2020

EDEKA

Namensuchmann wird immer langsamer, wie ein Spielzeugroboter, dessen Aufzugsfeder langsam erlahmt. Nicht zu schnell... laaaangsam langsamer werden. Metalangsam sozusagen. Und dabei nicht umfallen, das Gleichgewicht halten. Die Menschen um ihn herum werden unscharf, die Farben ihrer Klamotten beginnen zu verschwimmen und sich zu flirrenden Strichen langzuziehen. Sie beginnen zu summen. Aber sie summen keine Melodien, der Summton entsteht durch ihre schiere Geschwindigkeit relativ zu Namensuchmanns Stillstand. Stimmen, Sätze, Schritte und andere Geräusche werden zu stechmückenhaftem Sirren beschleunigt. 
Ein leises Knistern und Knacken macht sich bemerkbar. Das ist neu für Namensuchmann, soweit kam er noch nie. Das heißt, so laaaangsam wurde er noch nie. Mit äusserster Konzentration unter den Zeitfluss tauchen, sich absinken lassen, dabei durchsichtig werden und durchlässig. Fluffige Zeitflocken werden infolge der rasenden Relativgeschwindigkeit zu Gewehrkugeln, aber sie finden keinen Widerstand mehr, ja wundern sich nicht einmal, als sie wirkungslos durch Namensuchmann hindurchfliegen.
Um den fast perfekten Stillstand nicht zu stören, versucht Namensuchmann seinen Kopf virtuell zu drehen, versucht die Simulation einer Drehung, um seinen Ohren einen alternativen Hörwinkel zu ermöglichen. Sich bloß nicht wirklich bewegen, nicht die Annäherung an den absoluten Stillstand gefährden.  Doch was das Knistern und Knacken verursacht, kann er nicht erkennen, so sehr er sich zu konzentrieren versucht. Das große Knistern. Ist das das letzte Geräusch vor dem absoluten Stillstand, wenn die Relativgeschwindigkeit zur menschlichen Realität unendlich wird?
Der Markt ist längst geschlossen und verlassen, die leeren Gänge sind nur noch spärlich beleuchtet. Der kleine Engel sitzt auf den Schultern des riesigen Zombies und lenkt ihn sachte zum leeren Toilettenpapierregal. Dort halten sie kurz inne, dann hebt der Zombie seine schweren Arme und holt Namensuchmann aus dem obersten Fach. Niemand hatte ihn in seiner Bewegungslosigkeit bemerkt.

Dienstag, 3. März 2020

Namensuchmann fährt mit der DB

"Nein, sag das nicht", wisperte die Ameise.

"Es ist beschlossen", sagte Namensuchmann, "morgen..."

Ein lauter Knall wie ein Paukenschlag, nur tausendmal stärker, durchdrang die Welt. Sie erschauderte und zitterte wie ein kleines Reh im Angesicht des Mähdreschers. Die kleine Ameise blickte entsetzt in den Himmel, der glutrot und von schwarzen Schlieren durchzogen ebenfalls ruckte und zuckte. Es war ein Zittern und Rucken in der Welt, als ob sie etwas sehr schreckliches gesehen hätte und nun stumm zu schreien versuchte.

"Ihren Fahrschein bitte", sagte der gemütliche Schaffner und wartete geduldig, bis Namensuchmann von seiner Traumwelt heruntergestiegen war. Namensuchmann reichte ihm die kleine bedruckte Pappe. Sie war so hart und dick wie ein Metallplättchen. Da merkte Namensuchmann, dass er noch immer in einem Traum gefangen war. Solche Fahrkarten gab es schon seit vierzig Jahren nicht mehr. Oder waren es fünfzig? War er damals überhaupt schon auf der Welt? In der Pappfahrkartenzeit? Wie alt war er eigentlich genau? Es fühlte sich an, als wäre er schon immer in dieser Welt, als wäre er genau so alt wie die Welt selbst. Uralt.

Der gemütliche Schaffner blieb. Und wartete geduldig. In den sechs Sekunden, die Namensuchmann brauchen wird, um ihm sein Handy mit dem Code hinzuhalten, war noch mehr als genug Zeit um weiterzuträumen.

Namensuchmann erinnerte sich an einen bilderbuchmäßigen, sonnigen Herbstnachmittag unter den Trauerweiden am Fluß. Eine Bank stand in der warmen Nachmittagssonne, darauf lag Namensuchmann und träumte, während Menschen unten am Ufer auf ihren Decken lagen und ab und zu ins Wasser wateten um eine kleine Runde am Ufer entlang zu schwimmen.

Das Nebengleis blitzte wie blankgewienert in der Sonne. Stahl. Unbegreifliche Mengen von Stahl, abgebaut, transportiert, erhitzt, verhüttet, geschmiedet, wieder transportiert und verlegt. Auf Betonschwellen, die wieder abgebaut, transportiert, gemahlen, erhitzt, gebrannt, mit Wasser vermischt, geformt und wieder transportiert und verlegt werden mussten. Doch wozu? Um Fleisch von einem Ort zu einem anderen zu transportieren? Namensuchmann schüttelte sich. Er dachte lieber an den Sand, der bei Notbremsungen vor den Zugrädern auf die Schienen gestreut wird um die Reibung zu erhöhen. Wie groß war der entsprechende Vorratsbehälter? Ließ man den Sand herausrieseln oder wurde er gesprüht? Gepustet? Was befand sich unter den Gleisen? Gab es da noch Wurzeln? Wo waren nun die Menschen, die all das vollbracht hatten vor fünfzig Jahren? Oder hundert?

Noch zwei Sekunden, ein Instant-Traum hat noch Platz. Eine Ameise, von ihrem Stock getrennt, blickt ängstlich in den Himmel. Was war ihr widerfahren? Wo waren die anderen? Was hatte Namensuchmann zu ihr gesagt? Morgen, da wird es geschehen. Noch eine Sekunde.

Eine Sekunde, in der nichts geschieht. Fast, als stünde die Welt still. Der gemütliche Schaffner wartet auf Namensuchmanns Handy, um den Code zu scannen. Doch vorher ruckelt und klemmt die Zeit, verhakt sich, Teile fallen übereinander, blockieren die nachfolgenden. Ein Erstarren und Gefrieren greift knackend und knisternd um sich. 

Die Ameise und Namensuchmann sehen sich an. Fast ist es wie ein Erkennen.