Kann man eigentlich besoffen joggen gehen? Diese Frage stellte ich mir heute abend, bzw. sie wurde mir quasi aufoktroiert. Meine Schwester samt Familie bekam heute nämlich Besuch aus Frankreich, ein Vater aus Burgund lieferte seine Tochter bei ihr ab, damit sie für eine Woche mit meinen Neffen abhängen und die Gegend kennenlernen kann. Dummerweise musste meine Schwester heute arbeiten, und ihr Mann bringt vielleicht ein Schinkenbrot zustande, aber kein Abendessen für jemand, der gerade 600 km Autofahrt hinter sich hat. Also durfte ich für das leibliche Wohl der Gäste, meiner Schwester, meinem Schwager und der beiden Neffen sorgen.
Es gab Dünnele, was ein anderes Wort ist für Flammkuchen, und Salat. Na ja, kein Festtagsmenü, aber immerhin scheint es geschmeckt zu haben.
Nachdem ich aufgetischt hatte, verkündete ich, leider nicht mitessen zu können, da ich noch joggen gehen wollte. « Je ne mange pas, parce-que je vais courir dans la fôret », versuchte ich mich radebrechend beim sehr sympathischen Besuch zu entschuldigen, während ich einige stramme Laufbewegungen simulierte.
Meine Schwester überredete mich dann aber doch, am Tisch Platz zu nehmen, um wenigstens eine Kleinigkeit zu trinken. Mein Schwager schleppte sogleich ein paar Flaschen Bier an, und angesichts der alten Läuferregel, vor dem Lauf tüchtig zu trinken, genehmigte ich mir ein erstes, bescheidenes Glas. Daraus wurden dann jedoch mehrere, sodass ich nach einer Stunde ca. eineinhalb Flaschen intus hatte. Natürlich fühlte ich mich dementsprechend luftig und frei, fast schon schwebend, mit einer Note aufkeimender Trägheit und dem leisen Wunsch nach einem bequemen Platz vor dem TV im Abgang.
Doch wie hätte das denn ausgesehen? Zu meinem Erstaunen obsiegte meine Joggerehre tatsächlich über meinen inneren Schweinehund, ich zwängte mich in mein sexy Läuferdress und torkelte los.
Na ja, ich will nicht übertreiben. Ich war leicht beschwippst, von torkeln konnte keine Rede sein. Und das tapp-tapp-tapp-tapp der Füße auf dem Asphalt entwickelte wie immer auch diesmal wieder seine beruhigende, stabilisierende, ja kraftspendende Wirkung. Als es dann im Wald auf dem Kiesweg in ein stetes, arbeitsames knirsch-knirsch-knirsch-knirsch überging, hatte ich meinen Rhythmus endgültig gefunden und es gab kein Halten mehr.
Doch wie enttäuscht war ich, als ich nach einer halben Stunde den Wald durchquert und die andere Seite erreicht hatte. Dort befindet sich nämlich ein sehr schöner Aussichtspunkt, man überblickt den kompletten See mit all seinen Lichtern an den Ufern und im Hintergrund, bei klarer Sicht, sieht man die schneebeckten Alpen. Und manchmal, wenn man etwas später dran ist und die Dämmerung schon fortgeschritten, kann man eine ganze Schar Fledermäuse durch die Luft flitzen sehen.
Heute jedoch stand auf dem Parkplatz ein Wohnmobil, die Leute hatten einen Tisch aufgestellt und ließen es sich gut gehen. Aber bei Publikum macht es natürlich keinen Spaß, die Unendlichkeit auf den Asphalt zu drücken, also lief ich hundert Meter weiter hangabwärts, dort steht eine Bank, und die Aussicht ist nur geringfügig schlechter.
Als ich mich setzte, spürte ich wieder den Alkohol, eine Art schwummriges Schweben, aber nicht schlimm. Fledermäuse kreisten hier keine, die schienen sich auf den Waldrand spezialisiert zu haben. Dafür flatterten jede Menge anderer Brummer durch die Gegend: Nachtfalter in allen Größen und Ausführungen. Erstaunlicherweise wurde ich weder von Stechmücken noch von Bremsen belästigt, obwohl ich am ganzen Körper dampfte. Dafür kam etwas angebrummt und knallte gegen meinen Hinterkopf.
Es war noch nicht so finster, dass man viele Sterne sehen konnte. Nur zwei besonders helle Exemplare hatten sich entschlossen, mir Gesellschaft zu leisten. Der eine war Jupiter, zu meiner Linken im Südosten, sehr eindrucksvoll und nicht zu übersehen. Der andere war Arkturus, zu meiner Rechten, hoch im Südwesten.
Während das Ding, das mir gegen den Hinterkopf geflogen war, sich flatternd durch meine spärlichen Haare hocharbeitete, anstatt einfach seitwärts durchzustarten, bemerkte ich, dass ich mit Jupiter und Arkturus ein völlig gleichseitiges Dreieck bildete. Mir gefiel dieser Gedanke, ein famoses Triumvirat, und ich fühlte mich in dieser Gemeinschaft durchaus unter Gleichen, geradezu akzeptiert.
Vor mir erstreckte sich der Kiesweg, über den ich bald heimlaufen würde. Er führt in weitem Bogen um den Wald herum, durch den ich soeben gekommen war, und ist etwas länger als der Hinweg. Der Vorteil ist, dass es auf freiem Feld länger hell bleibt als im Wald. Man stolpert dann nicht so leicht über Wurzeln oder Schlimmeres.
Mittlerweile hatte der Brummer seinen Weg gefunden auf die Oberseite meines Kopfes und startete mit einer kitzelnden, wischenden Bewegung in die Nacht zurück.
Ich wäre gerne noch geblieben, aber je länger ich mich dort immer aufhalte, desto schwerer sind die Beine, wenn ich wieder loslaufe. In Anbetracht meines Alkoholpegels ahnte ich Schlimmes, doch wider Erwarten war ich schnell wieder in meinem Rhythmus.
Der Heimweg führt unter anderem auch durch einen Golfplatz. Zwischen den Gebäuden befindet sich ein Brunnen, an welchem die Golfer nach getaner Arbeit gerne ihre Schläger abbürsten. Das Wasser, das dort in den Trog plätschert, hat jedoch Trinkwasserqualität, wie mir nun schon einige Golfer versicherten. Ein paar Schlucke für den Heimweg lasse ich mir daher nie entgehen.
Wieder zu Hause und frisch geduscht, war von dem Bier nichts mehr zu spüren. Ich würde nicht so weit gehen und behaupten, dass man betrunken joggen sollte, aber zumindest ein leichter Schwipps ist kein Problem. (ohne Gewähr)
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