Freitag, 4. Mai 2012

Die Untersuchung



"So so, Schmerzen im Oberbauch, seit wann denn?"

Der Arzt ordnete drei Blatt sehr sparsam beschrifteter DIN A 4 Bogen in immer neuen Reihenfolgen, doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte keine weiteren Informationen über Namensuchmann finden ausser drei langen Reihen neins auf den Fragebögen nach Medikamentenabhänigkeiten, chronischen Erkrankungen und diversen Allergien.

"Eigentlich keine Schmerzen, nur so ein seltsames Gefühl, als würde sich da etwas tun", meinte Namensuchmann vorsichtig, während er an dem runden Gesicht des Arztes vorbeischaute und den Blick durch das dahinterliegende Fenster nach draußen wandern ließ. Es war ein sehr sauberes Fenster mit sehr weißen Gardinen.

"Aha", murmelte der Arzt und rückte sich seine randlose Brille zurecht ohne dabei den Blick von den Papieren zu erheben. Mit seiner rechten Hand tastete er unter dem Schreibtisch nach dem roten Knopf und drückte ihn. Namensuchmanns Stuhl kippte nach hinten und schräg hinein in ein großes quadratisches Loch, das sich unmittelbar zuvor lautlos geöffnet hatte. Er rutschte durch eine lange, dunkle, aber angenehm glatte Röhre von etwa einem Meter Durchmesser geschätzte zwanzig Meter in die Tiefe. Unten machte die Röhre eine Biegung und sorgte somit für eine schmerzfreie Verzögerung des am Anfang freien Falls. Mit nun eher mäßiger Geschwindigkeit durchlief Namensuchmann eine Station mit rotierenden Metallarmen, die ihn vollständig in Frischhaltefolie einwickelten. Sofort spürte er eine angenehme Verringerung jeden Alterungsprozesses. Dann folgte der gierige, kreisrunde Rachen eines Computertomographen, den er mehrmals durchflitzte wie das Schiffchen einen Webstuhl. Jedes Mal, wenn er den Tomographen am anderen Ende kurz verließ konnte er einen flüchtigen Blick erhaschen auf die große Glasscheibe, die den Untersuchungsraum vom dahinterliegenden Kontrollraum trennte. Zuerst sah er nur die beiden Handflächen, die von der anderen Seite parallel und in Kopfhöhe dagegengepresst wurden. Wie magisch zogen diese Handflächen seinen Blick auf sich, doch nach den ersten Durchläufen durch diese seltsame Maschine zwang sich Namensuchmann, auch auf die anderen Dinge dahinter zu achten. Er erkannte die Silhouette einer offensichtlich nackten Frau, die ein weißes Schwesternhäubchen über ihren kastanienbraunen, zu einem Dutt geflochtenen Haaren trug. Sie schien völlig bewegungslos mit ihren Händen an der Scheibe zu kleben.
Da die Frischaltefolie Namensuchmann auch über das Gesicht reichte begann er Überlegungen anzustellen, wann er wohl das Bedürfnis zu atmen verspüren würde. Vor diesem Moment begann er sich nun zu gruseln, als ein beunruhigendes Vibrieren, fast schon ein Rütteln, den Tomographen erfasste. Namensuchmanns lineare Pendelbewegung kam genau dann zum Stillstand, als er sich ausserhalb der Röhre und mit Blick auf die Glasscheibe befand. Das Vibrieren dauerte jedoch weiter an, nun auch noch angereichert mit dumpfen Schlägen, als ob irgendwo in der Tiefe ein Stahlträger gegen ein ausser Kontrolle geratenes Zahnrad schlagen würde.
Wegen der Folie war Namensuchmann völlig hilflos und konnte daher nichts anderes tun als sich der Beobachtung der nackten Schwester hinter der Glasscheibe zu widmen, glücklicherweise war sein Kopf zufällig in die richtige Richtung gedreht.
Nun, da er die Szenerie ohne Unterbrechung beobachten konnte, sah er, dass sie keineswegs so statisch war wie er anfangs gedacht hatte. Die Abdrücke der Handflächen wurden abwechselnd heller und breiter, dann wieder dunkler und schmaler. Heller und breiter, dunkler und schmaler. In demselben Rhythmus klatschten auch die Brüste der Medizinisch Technischen Angestellten von hinten gegen die Scheibe. Das war Namensuchmann zuvor gar nicht aufgefallen, da er sich zum Zeitpunkt der Busenklatscher stets schon wieder auf dem Rückweg in die Röhre befunden hatte. Hinter der Frau, stehend und ganz in weiß gekleidet, konnte Namensuchmann eine größere Gestalt erkennen, offensichtlich ein männliches Exemplar der Gattung Mensch, mit dunklen Haaren und einer großen Brille, in der sich die bunten Lichter des Kontrollpultes spiegelten.
Während ihre Brüste weiterhin rhythmisch gegen die Scheibe klatschten ließ die nackte Frau eine ihrer Hände nach unten wandern, wo sie offensichtlich nach etwas tastete, das sich unterhalb der Glasscheibe befinden musste. Die Hand kam wieder hoch und umklammerte ein dickes altmodisches Mikrophon. Die Frau versuchte, hineinzusprechen, aber das erwies sich als gar nicht so einfach, das Mikrophon schlug mehrfach heftig gegen die Scheibe.

"Kein Grund.... klatsch klatsch ...völlig normal unter diesen... klatsch peng....die Untersuchung wird sofort.... peng klatsch ....fortgeführt. Bitte bewahren Sie...klatsch klatsch...."

Mit dem Geräusch des letzten Klatschers im Kopf und dem Bild kreisrunder Brüste die gegen eine Scheibe gepresst werden wurde Namensuchmann wieder in die Röhre gesogen. Doch anstatt die altvertraute Pendelbewegung wieder aufzunehmen schoß er durch den Tomographen hindurch und wurde wieder nach oben gesaugt in das Sprechzimmer. Unterwegs wurde ihm von den metallenen Roboterarmen die Frischaltefolie vom Körper gerissen und seine zusammengepresste Kleidung zurechtgezupft. Binnen weniger Sekundenbruchteile stellte sich das unbehagliche Gefühl des Alterns wieder ein.
Der Stuhl ruckelte noch ein wenig, bis Namensuchmanns Gewicht wieder perfekt auf der Sitzfläche verteilt war. Auch die Rückenlehne drückte und zog noch etwas, bis auch Namenschuchmanns Haltung den neuesten orthopädischen Standards entsprach.

Der Arzt blickte noch immer nicht von seinen Papieren auf. Stattdessen drehte er sich zur Seite und besah sich ein seltsam buntes Foto auf einem ultradünnen Flachbildschirm.

"Hm...", sagte er. "Hm...."

 Namensuchmann nutzte die Pause, um sich auf seinem Stuhl umzudrehen und den Fußboden hinter sich zu betrachten. Die Fugen der Falltüre waren eindeutig zu sehen. Sogar die Aussparungen der Scharniere ließen sich erkennen. Er hatte also weder eine Halluzination noch einen Wachtraum gehabt.

"Hm...", sagte der Arzt nochmals. "Das ist wirklich erstaunlich. Wenn die Aufnahmen des CT stimmen, und davon gehe ich aus, denn das Gerät wurde vorige Woche erst gewartet, dann kollidieren in Ihrer Brust gerade zwei Galaxien. Eine Spiralgalaxie und eine Balkengalaxie, um genau zu sein. Der Durchdringungsgradient hat gerade sein Maximum erreicht, und ein besonders langes Gezeitenfilament erstreckt sich bis in Ihre linke Herzkammer. Ich nehme an, dieses Filament ist es, das in Ihnen das Gefühl hervorruft, dass sich `etwas tut´ in Ihrer Brust."

"Und nun?", fragte Namensuchmann.

"Um Himmels willen, ich bin doch kein Astronom", patzte der Arzt etwas zu laut für Namensuchmanns Geschmack. "Ich überweise Sie an die astronomische Fakultät der hiesigen Universität, dort wird man Ihnen sicher weiterhelfen. Ich bin Internist, kein Physiker!"

"Darf ich mir die Bilder mal ansehen?", fragte Namensuchmann und beugte sich etwas vor, um den Bildschirm etwas zu sich heranzudrehen.

"Sieht das nicht aus wie ein Buchstabe?", fragte er. "Dieses Filament hier, das in meine linke Herzkammer reicht. Es ist doch arg sonderbar geschwungen."

Der Arzt hob sich seine Brille über die Augen und  blinzelte auf den Monitor. 

"Na jaaa...kann schon sein. Ja....man könnte es durchaus für ein kleines d halten, finden Sie nicht auch?"

"Ja", sagte Namensuchmann, "Ein kleines d! Eindeutig."





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