Sonntag, 11. Juli 2010

Auf dem Bahnsteig


Das Aufspüren irrer Vorkommnisse ist fast schon eine Wissenschaft. Oder auch nicht. Je nach dem, wie intensiv man die Sache betreibt. Dabei verbergen sich die Vorkommnisse lediglich in einer Ansammlung aus 26 verschiedenen Zeichen. Man muss sie nur in der richtigen, irren Reihenfolge hervorziehen aus dem Urozean der Buchstaben.
Man kann sogar ziehen, während man auf einem Bahnsteig sitzt und auf den verspäteten Zug wartet. Man legt das Notizbuch auf den Schoß, drückt die Mine des Bleistifts heraus, wartet und überlegt sich, wie lange das Deo wohl noch gegen den Schweiß ankommt, der bereits das T-Shirt zum Kleben bringt. Lange Hosen und geschlossene Schuhe waren ebenfalls keine gute Wahl (ich besitze auch noch dünnere, aber nicht so schicke Shirts). Sandalen schieden jedoch leider aus, da meine rechte Ringzehe blau ist vom barfüßigen Tritt gegen eine Baumwurzel. Und wer streckt schon gerne seine nackten, blauen Zehen in den öffentlichen Raum ausser Banausen und Proleten?
Wegen der geschlossenen Schuhe schieden natürlich auch kurze Hosen aus. Kurze Hosen gehen nur mit offenen Schuhen, also Sandalen. Geschlossene Schuhe, wegen blauer Zehe = lange Hosen. Zudem habe ich kürzlich bemerkt, dass meine einzige einigermaßen gesellschaftsfähige kurze Hose vorne, direkt neben dem Reissverschluss, ein Loch aufweist. Somit muss auch die Unterwäsche farblich dazu passen, damit es nicht so arg auffällt. Zu meinen schwarzen Cargo-Bermudas kann ich also nur noch schwarze Unterhosen anziehen. Na ja, dunkelblau geht vermutlich auch noch, nur nicht weiß oder hellblau. Andersfarbige Unterwäsche besitze ich Gott sei Dank nicht.

Ein Typ hat sich soeben rechts neben mich gesetzt. Freundlicherweise ließ er aber einen Sitz zwischen uns frei, steckte sich dafür aber sogleich eine Zigarette an. Der Rauch weht zu mir herüber. Obwohl ich selbst nicht rauche, mag ich den Geruch einer frisch angezündeten Zigarette. Der Typ trägt ein weisses Hemd, dunkle Hosen, schwarze Socken und schwarze Schuhe. Die Socken sind nicht zu kurz, die Schuhe sehen frisch geputzt aus. Rasierwasser oder Eau de Toilette mischen sich mit dem Rauch. Ich tippe auf Boss. Der Körpersprache nach zu urteilen ist er Mitte bis Ende zwanzig. Sein Gesicht traue ich mir nicht anzuschauen, na ja, ein bißchen höchstens, aus den Augenwinkeln. Da kann, glaube ich, nicht viel passieren, falls er Schlangen auf dem Kopf haben sollte die einen in Stein verwandeln wollen wenn man direkt hinsieht. Allerdings höre ich keinerlei verräterisches Zischeln oder Reiben von Schuppen auf Schuppen. Stattdessen jetzt das daddelige Gebimmel eines Handyspiels. Es wirkt seltsam beruhigend. Solange gedaddelt wird, bekommt man kein Messer zwischen die Rippen. Aber womöglich könnte man währenddessen von einer der Schlangen gebissen werden? Daddelt Medusa?

Ich sollte anrufen. Ich müsste anrufen. Ich suche nach einem Grund, den Anruf hinauszuschieben. Es gibt keinen. Ich tu´s. Vergeblich. Es geht niemand dran. In einer Viertelstunde müsste endlich der Zug kommen. Anscheinend hat er Probleme mit der Motorkühlung, meint der Lautsprecher. Hoffentlich funktioniert die Klimaanlage!

Nun sitzen zwei junge Damen links neben mir, nur sehr leicht bekleidet. Miniröcke, Spaghettiträgerchen, Flip-Flops. Sie konnten keinen Sicherheitsabstand zu mir lassen, es gibt nicht mehr genügend Sitzplätze. Ich merke, wie Medusa rechts neben mir intensiv herüberschaut, vermutlich direkt durch mich hindurch. Das Parfüm der jungen Frau direkt neben mir riecht beim ersten Riechen nach Schnellimbiss, dann aber leicht holzig, fast harzig, es hat eine eher männliche Note. Ihre Haare sind sehr kurz und pechschwarz. Ihre Haut ist leicht gebräunt, die Beine sind akkurat rasiert und sehr grazil. Ich wage insgesamt drei Blicke während der noch zehnminütigen Wartezeit, mit einer summierten Gesamtdauer von ca. zwei Sekunden. Ich kann keinerlei Pigmentflecken erkennen und auch keine anderen Hautirritationen. Ihre Haut ist perfekt. Ich wusste nicht, dass es schon tragbares Photoshop gibt.

Der Zug fährt ein. Der Typ mit den Schlangen auf dem Kopf benutzt zufällig denselben Eingang wie die beiden jungen Damen. Es klatscht und klopft etwas, als er durch die Tür geht und die Schlangenköpfe gegen die Türoberkante stossen. Ich steige einen Waggon dahinter ein. Kurz nach dem Anfahren des Zuges höre ich die ersten Schreie aus dem vorderen Waggon.

"Hast du was gegen attraktive junge Damen, oder warum sonst dieses verstörende Ende der Geschichte?"

"Nein, ganz im Gegenteil. In Wahrheit sah es tatsächlich so aus, als würden die beiden Schönheiten denselben Eingang benutzen wie Medusa, doch im letzten Moment entschieden sie sich anders und rannten zu dem Eingang, den ich mir ausgesucht hatte. Aber dieses Ende schien mir nicht aufregend genug."

"Hast recht!"


Keine Kommentare: