Samstag, 21. August 2010

Abend am See


Von einer meiner liebsten Joggingstrecken führt eine Abzweigung zu der malerischen, hoch über dem Bodensee thronenden Klosterkirche. Von ihrem Vorplatz hat man einen geradezu abartigen Blick über den See und die weit dahinter liegenden Alpen. Besonders bei Sonnenuntergang möchte man fast kotzen vor Verlangen, mit dieser Szenerie zu verschmelzen oder sie zumindest mit der Geliebten zu teilen. Wobei dieser Brechreiz völlig unabhängig ist von der Tatsache, ob man eine Geliebte hat oder nicht.
Ich trabte zu dem kleinen Mäuerchen, welches den Vorplatz vom darunterliegenden Weinberg trennt und genoß die Aussicht. Hinter mir leuchtete die von der untergehenden Sonne angestrahlte Barockfassade der Kirche. Auf der Bahnlinie, die unten entlang des Ufers verläuft, kündigte sich verhalten brummend ein Zug an. Es war der dieselgetriebene Interregio von Basel nach Ulm. Auf einem vom See abgewandten Fensterplatz saß mein Geist. Ich spürte ihn so deutlich wie man einen Nagel spürt, der von unten durch den Absatz des Joggingschuhs sticht. Wenn der Nagel nicht zu lang ist, dann ist es lediglich unangenehm, aber nicht gefährlich. Mein Geist schlief nicht, aber er schien zu träumen.
Ich benutze diesen Interregio immer, wenn ich mit der Bahn verreise. Er bringt mich nach Ulm, wo ich dann in den ICE von München nach Mannheim umsteige. Während ich so überlegte, wann ich die Strecke wohl zuletzt benutzt habe, schaute mein Geist sich plötzlich um. Er hob seine Entsprechung eines menschlichen Kopfes und blickte zu mir herauf. Wir erkannten uns, doch wir sagten nichts, dachten nichts, nickten uns nicht zu. Wir wussten, wer wir waren.
Wenn ich das nächste Mal den Interregio Ulm-Basel benutze, werde ich mich auf einen Fensterplatz setzen, vom See abgewandt, und werde im Vorbeifahren zu der Kirche hochschauen. Hinter dem Mäuerchen, das den Vorplatz umschließt, einen Fuß auf die Mauerkrone gestellt, wird mein Geist stehen und zu mir hinunterblicken. Ich werde ihn spüren und wir werden uns erkennen.


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