Donnerstag, 26. August 2010

Wenn´s regnet (III)

Der Bentley fegte so schnell durch die unsichtbaren Kurven, dass Namensuchmann bisweilen fürchtete, ein nächtliches Opfer der Fliehkräfte zu werden. Er war froh, dass es genau vor ihm einen Haltegriff am Armaturenbrett gab. Am liebsten hätte er sich mit beiden Händen daran festgeklammert, doch seltsamerweise war ihm die Vorstellung unangenehm, der Fahrer könnte ihn womöglich für ängstlich halten. Also hielt er sich nur lässig mit seiner Linken an dem Griff fest, während er mit seiner Rechten verstohlen das Aufnahmegerät in seiner Wachsjackentasche etwas verschob, damit es seiner Aufgabe besser nachkommen konnte. Ob hinterher überhaupt etwas Brauchbares im Speicher sein würde, war natürlich mehr als fraglich. Aber das würde er noch herausfinden.
"Hinterher", dachte er dann plötzlich. Hinter was? Er wusste ja noch nicht einmal, wo und wann diese Höllenfahrt überhaupt einmal enden würde. Er schaute sich das Armaturenbrett genauer an. Es gab eine handvoll größere und kleinere, teilweise beleuchtete Anzeigen. Manche waren rund wie alte Uhren, andere hingegen schienen dem Experimentierkasten eines Atmosphären- oder Fluidphysikers entnommen. Senkrecht montierte Metallröhren mit schmalen Sichtfenstern, hinter denen eine bläulich leuchtende Flüssigkeit sich träge senkte und hob. Manchmal klopfte der Fahrer gegen eines der schmalen Sichtfenster, um danach an einer Art Ventil am oberen Ende der Röhre zu drehen. Namensuchmann wunderte sich, da die Straße alles andere war als eben und die archaische Federung des Bentley eigentlich für genügend Erschütterungen der geheimnisvollen Röhren sorgte. Als jedoch trotzdem wieder gegen eine der Röhren geklopft werden musste, konnte Namensuchmann einem kurzen Seitenblick zum Fahrer nicht widerstehen. Es war jedoch keine überlegte Entscheidung, mehr ein Reflex, doch Namensuchmann hatte keinen Grund, diesen Impuls zu bereuen. Der Fahrer bemerkte seinen Blick, entblößte seine Zähne zu einem freundlichen Grinsen, machte mit dem Daumen seiner Linken das überall verstandene Zeichen, dass alles in Ordnung sei und nahm dann wieder beide Hände ans Steuer, um den schweren Wagen um offensichtlich nur ihm bekannte Kurven herumzureissen. Denn zu erkennen waren weder Landschaft noch Fahrbahnbegrenzungen. Nur dichter, unaufhörlicher Regen, der im Scheinwerferlicht direkt von vorne zu kommen schien.
Eine Zeituhr war nicht zu sehen auf dem Armaturenbrett. Seine Armbanduhr hatte Namensuchmann abgelegt, als er sich vor einer halben Ewigkeit, so schien es ihm, darangemacht hatte, das lächerlich winzige Notrad an sein fast nagelneues Auto zu montieren.
Es war strahlend schönes Wetter gewesen, Mittagszeit, und die Straße fast menschenleer. Ein alter, seltsam gekrümmter und fast nur noch aus Rost bestehender Nagel hatte dem vorderen rechten Reifen den Garaus gemacht. Schleichend, glücklicherweise, und nicht platzend, doch das Ergebnis war fast dasselbe. Gestrandet im Nirgendwo. Seine allererste Panne überhaupt. Und das, kaum nachdem er sein neues Auto in Empfang genommen hatte. Mit den uralten Schrottlauben, die er zuvor gefahren hatte, war er niemals liegengeblieben. War es Zufall, dass ausgerechnet jetzt dieser blöde Nagel ins Spiel kam? Wie lange er wohl schon in dem Reifen steckte?
Namensuchmann hatte eben den Wagenheber angesetzt und das Auto hochgekurbelt, als er sich einen Schweißtropfen aus dem Auge zu wischen versuchte. Er schloss die Augen etwas zu lange. Denn als er sie wieder öffnete, war es finstere Nacht und es regnete in Strömen. Im Nu war der Wagenheber unterspült und knickte weg, an einen Radwechsel war nicht mehr zu denken. Namensuchmann entschied, dass das Innere des Autos auf jeden Fall ein angenehmerer Ort war um nachzudenken als draußen im Matsch. Es tat ihm leid, die schönen neuen Polster nasszumachen, doch er hatte keine Wahl. Er fand sein Mobiltelefon, das auf dem Beifahrersitz lag und blätterte das Telefonbuch durch. Kein Eintrag sagte ihm etwas. Der Balken für den Netzempfang war völlig verschwunden, und der Akku pfiff aus dem letzen Loch.
Namensuchmann wartete zwei Stunden, ohne dass ein einziges Fahrzeug an ihm vorbeigekommen wäre. Der Lärm, den die fetten Regentropfen auf dem Autodach veranstalteten, wirkte auf die Dauer einschläfernd, doch Namensuchmann wollte nicht einschlafen, wollte nicht mehr länger warten. Er war ausgestiegen und losmarschiert. Anfangs in Fahrtrichtung, doch ob es dabei geblieben war, wusste er jetzt nicht mehr zu sagen. Keine Autofahrer, keine Lichter, keine Verkehrszeichen.
Nichts.
Bis auf den Bentley.

Keine Kommentare: