Montag, 6. Juni 2011

Höhere Wesen



"Der Leichnam schien äusserlich unverändert, und doch schwebte er langsam immer höher, als wäre er nur eine mit Helium gefüllte ultraleichte Hülle."


"Nun schreib´ doch mal was Schönes! Von Blumen z.B., oder von der Liebe!"

Ich erschrak fast zu Tode. Schräg hinter mir stand mein Zombie. Ich hatte das Fenster geöffnet, der Durchzug wehte seinen Aasgestank von mir fort, daher hatte ich ihn nicht bemerkt. Auf seinem Kopf, und halb auf der Schulter, saß der Engel. Er hatte die Gestalt und die Proportionen eines Erwachsenen, war aber höchstens 80 Zentimeter groß. Alles an ihm war irgendwie durchscheinend cremefarben, mit rötlichen Schlieren, die sich in seinem Inneren zu seltsamen Mustern zusammenfanden und dort, wo man sein Herz vermutete, einen dichten Knoten bildeten. Seine gefiederten, ebenfalls durchscheinenden Flügel waren jedoch frei von den roten Schlieren. Man konnte nicht sagen, dass er nackt war, aber auch nicht, dass er irgendwelche Kleidung trug. Seine Oberfläche schien seltsam indifferent. Wo man in einem Augenblick eine nackte Schulter wähnte, fältelte sich im nächsten Moment ein seidiger Umhang. Mein Zombie hatte nur noch ein komplettes Auge, das andere hing am Sehnerv etwa auf Höhe seines linken Nasenflügels. Aus der Augenhöhle tropfte eine wässrige Flüssigkeit auf meine Schulter.

"Boah...scheiße....", entfuhr es mir und ich schob den Zombie auf Armlänge von mir weg. Nicht auszudenken, wenn er mir die Tastatur volltropfte.

"Wie hältst du es nur Tag und Nacht auf diesem Ding aus?" fragte ich den Engel.

"Was für ein Ding?"

"Na....dieses....Ding!", sagte ich barsch und deutete ungeniert auf den Zombie, "wie kannst du nur darauf sitzen?"

Der Engel schaute an sich herunter, doch schien nichts Außergewöhnliches zu bemerken.

"Was meinst du?"


"Herrjeh", rief ich und wendete mich wieder meinem Computer zu, um weiterzuschreiben.

"Schreib´ doch mal was über die Liebe!", meinte der Engel wieder.

"Wieso ich? Schreib´ du doch was darüber, du kennst dich damit doch viel besser aus"


"Ich? Wieso ich?"

"Ich dachte, Engel bestehen aus nichts anderem als Liebe. Konzentrierte Zuneigung, kondensierte Weisheit, gestaltgewordener Frieden."


"So ein Unsinn"


"Na ja, das sagt man doch so. Was seid ihr denn sonst? Protoplastische Wirbel in Menschengestalt? Geistige Fata Morganas?"


"Eher eine Mischung aus beidem"


"Nee, im Ernst?"


"Grmpf....grölz.....mmmrrrrooar"


"Was hat er denn? Hunger?"


"Zombies haben keinen Hunger. Sie sehnen sich jedoch nach Leben, wie wir alle, doch in ihrem Inneren gähnt ein abgrundtiefer Schlund völliger Leere, den sie dann und wann zu stopfen trachten mit Material, das irgendwann lebte oder, besser noch, immer noch lebt. Eine Verhaltensweise, die natürlich gesellschaftlich keinesfalls auf Gegenliebe stösst."


Ich ließ mir mein Erstaunen nicht anmerken. Es war das erste Mal gewesen, dass der Engel die Existenz des Zombies erwähnte; gerade so, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. Der Zombie schwankte nun wieder etwas vor, fing sich jedoch wieder, bevor er mir allzu nahe kam. Der Engel begann, die Schläfen des Zombies zu massieren und mit seinen filigranen Händen den dicken stinkenden Kopf leicht hin- und herzudrehen. Der grunzende Zombie drehte sich langsam in Richtung Zimmertür, und gemessenen Schrittes bewegte das seltsame Duo sich nach draußen. Es war Abend geworden, ein leichter Wind wehte durch die Baumwipfel, in breitbeinigem Trab ritt der Engel den Zombie in den Sonnenuntergang.


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