Montag, 20. Juni 2011

Wenn´s regnet (XIV)



Die Schneeflocken fielen nun immer dichter. Und sie wurden immer größer. Wenn Namensuchmann innehielt und lauschte, dann hatte er oftmals den Eindruck, dass die Flocken nicht auf die Wasseroberfläche rieselten, sondern regelrecht platschten. Schon fühlte er einen leichten Druck auf seinem Rücken, das konnte nur die wachsende Haube aus Schnee sein. Das Wasser begann nun doch, sich etwas kälter anzufühlen, teilweise schien es sogar eine sulzige Konsistenz anzunehmen. Und noch immer absolute Dunkelheit, keine Blitze mehr. Dafür Schmerzen in den Knien. Der harte Noppenboden forderte allmählich seinen Tribut. Kälte. Es wurde definitiv kälter.


Namensuchman kroch langsam, tastend. Nur zu präsent war die Erinnerung an seinen Beinaheabsturz, als die Linie plötzlich geendet und er nicht gemerkt hatte, dass der Boden, auf dem sie verlief, unter der Wasseroberfläche schon einen Meter zuvor senkrecht abgestürzt war. Das sollte ihm nicht noch einmal passieren. Platsch....platsch...Zeit spielt keine Rolle, erinnerte er sich. Das war in einem Film gewesen, Das 5. Element. Das einzige, was zählt, ist das Leben! So ging das Zitat korrekt weiter. In dieser Situation war sein Leben eine sehr überschaubare Angelegenheit. In absoluter Dunkelheit im Wasser kriechend eingeschneit zu werden ließ nicht viel Raum für Spekulationen. Aber da war immer noch der Bentley. Ein offenes Cabrio zwar, aber bestimmt mit einem Notverdeck. Gegen die Kälte zwar sinnlos, aber immerhin wäre er darin vor diesen dicken fetten Mutantenflocken geschützt. Jede einzelne schien das Gewicht des Schnees auf seinem Rücken merklich zu erhöhen. Der unheimliche Affe befand sich ja nun woanders, auf dem Grund des Unterwasserabgrundes, der auch Namensuchmann fast zum Verhängnis geworden war. Der Wagen. Dorthin würde er zurückkehren. Die Vorstellung, sich endlich aus dieser pechschwarzen, handbreit überfluteten Unendlichkeit emporzuheben und sich auf richtigen Sitzen niederzulassen, auszuruhen ohne dass das Gesicht in Wasser taucht, entwickelte eine fast übermächtige Triebkraft. Doch er durfte die Linie nicht verlassen, sie war sein einziger Orientierungspunkt. Doch sie führte ihn weg vom Bentley. Aber da war diese andere Linie, die zweite, die er entdeckt hatte. Wenn er sich nicht irrte und sein räumliches Vorstellungsvermögen noch funktionierte, musste die Linie, auf der er sich gerade befand, die zweite Linie bald treffen. Vorausgesetzt natürlich, es gab keine Kurven in diesem Geflecht; doch bis jetzt schien das nicht der Fall zu sein. Dann musste er nur noch dieser zweiten Linie nach links folgen und käme dann zum Bentley zurück.

Platsch...platsch...platsch...da war sie! Wie Namensuchmann vermutet hatte. Er kroch noch ein Stück weiter und tastete die neue Linie ab. Es war keine Kreuzung. Es war eine Einmündung. Die Linie, auf der er gekommen war, endete. Der neuen Linie nach links folgend musste er nach etwa 15 Metern auf den Bentley stoßen, ohne Affe. Doch wohin würde er wohl gelangen, wenn er der Linie nach rechts folgte? Vermutlich wieder zum Abgrund, nur nicht so schnell, da diese Linie nicht parallel, sondern schräg zur ersten verlief. Namensuchmann schätzte, dass er nach etwa 20 Metern kriechen in sulzigem Matschwasser wieder an den Abgrund gelangen würde. Wozu also sich die Mühe machen? Dann doch lieber gleich zurück zum Bentley. Doch dort würde es nicht weitergehen. Er hatte keine Idee, was er dort dann tun sollte ausser sich auf die nassen Lederpolster zu kauern und zu warten. Vermutlich für immer zu warten.
Da konnte er genausogut die 20 Meter bis zum Abgrund noch überprüfen und dann immer noch zum Auto zurückkriechen. Das schien keine unlösbare Aufgabe.

Er spürte nun jede noch so kleine Gumminoppe unter seinen Kniescheiben. Doch ihre regelmäßige Verteilung erlaubte eine gewisse Angleichung des Kriechrhythmus, sodass die Knie meistens genau zwischen zwei Noppen aufsetzten. Landete ein Knie doch einmal auf einer Noppe, half nur ein verbissener Schrei und ein deftiger Fluch, um den stechenden Schmerz in Zaum zu halten. Mehr als einmal drosch Namensuchmann bei solcher Gelegenheit mit seiner Faust wie von Sinnen auf das schwarze Wasser ein. Und kroch etwas vorsichtiger weiter. Noch zehn Meter etwa, dann musste er am Abgrund ankommen. Vorausgesetzt natürlich, die Abgrundkante verlief gerade und machte keinen Bogen zu ihm hin oder von ihm fort. Egal. Er kroch jetzt viel langsamer, tastete die Linie vor ihm erst gewissenhaft ab, ehe er sein Gewicht auf seine Hände verlagerte.

Die Linie endete. Doch der Noppenboden verlief waagrecht weiter. Kein Abgrund. Namensuchmann kroch von der Linie herunter, doch nicht, ohne mit seiner Linken ständigen Kontakt zu ihrem Endpunkt zu halten. In der absoluten Dunkelheit war sie sein Koordinatensystem, sein Wegweiser zurück zu seinem Nullpunkt, dem Bentley. Namensuchmann begann, einen Kreis zu kriechen um den Endpunkt der Linie, ohne zu wissen, was er eigentlich zu finden hoffte. Schaden konnte es jedenfalls nicht, sagte er sich gerade, als seine Rechte den Abgrund ertastete. Jedenfalls vermutete er, dass es sich um den Abgrund handelte, denn er konnte gerade mal seine Finger über die Abbruchkante schieben, solange er mit seiner Linken die Linie nicht loslassen wollte. Er durfte die Linie nicht verlieren. Wenn er sie nicht wiederfand, würde er nicht zum Bentley zurückgelangen, da war er sich sicher. Es musste der Abgrund sein. Die Wasseroberfläche war ruhig und ohne Wellenschlag, nichts deutete darauf hin, dass der Noppenboden darunter plötzlich senkrecht abfiel. Das war´s also. Es hatte sich ausgeforscht. Wenn er die Linien nicht aufgeben wollte, dann blieb ihm jetzt nur noch, zum Bentley zurückzukriechen.



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