..............................................und andere Lumineszenzen..............................................
Samstag, 3. Dezember 2011
Liebeslied
Am Himmel Schmerzgewitter von West nach Ost wandernd. Ich ziehe den Kopf ein und schlage den Kragen hoch. Über welchem Landstrich sie wohl niedergehen werden? Fasziniert beobachte ich das grün-rote Farbspiel, das aus dem Inneren der Gewitterzelle nach aussen dringt und einen unwirklichen Farbton über die Stadt legt. Aus der Wolke scheint auch eine schöne Tenorstimme zu erschallen, doch ich kann keine Worte, noch nicht einmal eine Sprache erkennen. Die Melodie ist monoton und einschläfernd, plötzlich fühle ich den harten Asphalt unter meinen Knien. Verwundert stehe ich wieder auf und klopfe mir den Dreck von der Hose.
Mitten auf der Straße, völlig unbesorgt wegen des dichten Verkehrs, geht ein alter Mann. Er trägt einen grauen Schützenhut, einen grauen Schal und einen grauen Mantel. Darunter kann ich graue Hosen und - hoppla- blaue Adiletten erkennen, die auf nackten, bleichen Füßen stecken. Vor seiner Brust hält er eine lange Stange, die ein großes weißes Pappschild trägt. Auf dem Schild steht in perfekten Verdana-Lettern:
DIE TOTEN DÜRFEN NICHT ABSTIMMEN DAS MACHT SIE TRAURIG
Sein Blick ist starr geradeaus auf die nasse Straße gerichtet. Die Vorbeifahrt eines großen Lastwagens erzeugt eine so starke Windböe, dass dem alten Mann fast das Schild aus den Händen gerissen wird. Wütend blickt er nach oben, ob noch alles an seinem Platz ist. Es scheint ein sehr stabiles Pappschild zu sein. Dann fällt sein Blick auf mich. Mit immer noch, oder schon wieder wutverzerrtem Gesicht brüllt er in meine Richtung:
"Es wird Ihnen nicht gelingen, mich zu verwirren!"
"Was?" rufe ich in einem ersten Reflex zurück und denke sofort an Pulp Fiction. Doch dem Alten steht offenbar nicht der Sinn nach einer Filmzitateschlacht, er stapft unbeirrt weiter die Straße entlang, den Blick wieder starr vor sich auf den Asphalt gerichtet. Trotz des Verkehrslärms kann ich hören, wie seine nackten Füße in den Badelatschen quietschen vor Nässe. Ich schaue nach oben - tatsächlich, es regnet. Und nun bemerke ich auch, dass die Autos und vor allem die Lastwagen große Gischtfahnen hinter sich herziehen. Die Tenorstimme aus der Schmerzgewitterwolke ist merklich leiser geworden, sie singt nun im Nachbarviertel die Menschen auf die Knie. Auch ich beginne nun ein Lied zu singen, so laut ich kann, um den Verkehrslärm zu übertönen. Trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob der alten Mann mich noch hören kann. Ich singe über die Liebe und über Tränen, die wie Leuchtkäfer nach dem Urknall vor der Protomaterie herfliegen, wirr und konfus ob der plötzlichen Geschwindigkeit. Den Text und die Melodie erfinde ich instantan. Besonders gelungene Abschnitte untermale ich mit ausladenden Gesten.
Würde mich nicht wundern, wenn ich den mal irgendwo wiedersehe, denke ich mir, als ich mein Lied beendet habe und der Alte gerade hinter einem Gelenkomnibus verschwunden ist und verschwunden bleibt selbst nachdem der Bus längst weitergefahren ist.
Ich habe das dumpfe Gefühl, sollte ich jemals auf einem in der Zeit gefrorenen Atompilz spazieren gehen, ich die Leuchtkäfer wiedersehen und ein weiteres Schwätzchen mit dem Alten halten werde.
Ist aber nur so ein Gefühl.
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