Dienstag, 12. September 2017

Eine Nacht aus Marmor und Schnee

Die Nacht ist sehr alt
und als währte sie schon ewig
war sie niemals jung.
Kein Grauen mehr am Morgen
kein Tag mehr dessen Tod uns mahnt

Sternenwolken ziehen unbewegt
und lauschend über Violinenklang.
Und Noten netzen geisterhaft
wie feine Nebelgischt mein
waches welkes Angesicht

Eine Melodie, leicht wie Schnee
sinkt herab auf Fuß und Moos
und bald ist es Marmor
weiß wie ein Weg leuchtend
über Tal und Grund

Das Bett ist warm doch die Seele nackt,
nur bedeckt vom Duft nach Schnee.
Kein Spüren, kein Seufzen, nur ein Ziehen 
und ein Wehen wie von Gestirnen, 
unberührt über Wüste, Berg und See.

Mittwoch, 30. August 2017

Himmelfahrt

Ich sitze auf der Terrasse, die Sonne scheint. Über mir raschelt und flüstert der Wind im Laub des Walnussbaums. Seine Äste und Zweige heben und senken sich im Rhythmus der Böen. Wirre Schattenmuster tanzen über meine geschlossenen Lider. Dann wieder Stille, und ruhiger Sonnenglanz. Wärme. Es könnte schön sein, es könnte erfüllend sein, es könnte normal sein. Aber weit strebt das Wissen aus, Landstrich an Landstrich, Meer an Kontinent, Berg an Tal, unter einer immensen Schicht menschlicher Biomasse mit Gesichtern und Geschlechtsteilen. ein Odor des Grauens.
Neben mir ein Korb mit verbrauchten Tagen. Sie sehen verschrumpelt und unscheinbar aus, wurden sie etwa falsch gelagert? Wo gingst du hin, nachdem ich dich berührt hatte? Du liesest dein Lächeln zurück, sagtest, du brauchst es nicht, dort, wo du hingehst. Ich spüre dein Lächeln, ich spüre den Wind, ich spüre die Sonne.

Bin ich denn nicht würdig, in Frieden zu sterben? Muss es Krieg und Gräuel geben?

All die Bilder, die ich nicht malte, sie hängen dicht an dicht zu meiner Linken. Zu meiner Rechten die Fenster zeigen hinaus auf den Platz, kleine Schatten tanzen herein, springen und hüpfen über meine Füße und hinauf zu den Bildern. Ich trete an das Glas, ohne Gedanken an meine Nacktheit, und fühle die Beschleunigung. Zuvor unsichtbare Sterne fangen an, zu fallen. Fallen immer schneller, werden zu Strichen und Linien. Ich knie und möchte beten. Das Licht nimmt ab, Dämmerung senkt sich hernieder. Oder komme ich zur Dämmerung? Die Worte scheinen kein Ende zu nehmen, dunkle Energie bläst sie zu monströsen Formen.

"Nein", sagte das Gespenst, "ich spuke nur an Himmelfahrt. Heute zitiere ich Rilke."

Der Sachbearbeiter hatte sich seit zwei Stunden nicht mehr bewegt. Seit einer Stunde las ich in meinem alten SiFi-Roman, zum wiederholen Male. Doch seit die metallisch glänzende Schmeißfliege durch das offene Fenster hereingesummt war, konnte ich mich nicht mehr auf die Worte und Sätze konzentrieren. Ich klemmte also das Lesezeichen, eine Bistrorechnung, zwischen die Seiten, schloss das Buch und packte es in meinen Rucksack. Endlich fand die Schmeißfliege einen Landeplatz. Sie setzte sich in das offene Auge des Sachbearbeiters, aus ihrem Hintern ploppten unhörbar winzige Eier.

"Na dann", sagte ich, stand auf, nahm meinen Rucksack und ging hinaus. Es war Himmelfahrt und die Schwerkraft ließ schon langsam nach. 

Die Wärme im Gesicht tut gut. Die Sonne ist schon eine feine Sache.








Dienstag, 4. Juli 2017

Bananenblues

Sommersonnenwende im Tiergarten, Gerüstgedanken denkend. Gerüstgedanken. Wohlwollend den breiten Weg vor meinen Füßen betrachtend. Ich versuche, zwischen den Gerüstgedanken einen Kern Fleischgedanken einzufügen. "Fleisch"-Gedanken deshalb, weil sie rosig-fettig glänzen, wie ein straff gezogener Madenkörper. Der Madenkörper möchte platzen, und all die Menschlein, all das Gewusel um ihn herum ist in heller Aufregung.
"Er platzt!", schallt es durch die Gassen, und rote Münder herzen Gehsteige und Fußabstreifer. Eine schwarze Wolke verirrt sich in die Stadt, bringt Nacht und Mord und grauen Schimmel an Wänden und Türen.
"Ich mag den Geruch von schimmligen Türen nicht", sagt das Kind mit dem alten Gesicht, "obwohl ich den Schimmel gerne abschaben und zu kleinen Murmeln pressen würde."
Diese Szenerie ist nichts für Kinder, denke ich mir flüchtig, auch wenn sie alte Gesichter haben. Doch die Dunkelheit ist so tintig-schwarz und dicht, in ihr schweben sogar Ambosse wie Heliumballone. Im Ambossregen laufe ich einen Marathon, der erste meines Lebens, gegen die dicke Dunkelheit rudernd.
"Woran denkst Du?", fragt sie.
"Ach, eigentlich wollte ich noch zu ALDI", sage ich, "die Bananen sind alle".
"Das kann unmöglich das Ende sein", zischt die Souffleuse in ihrer Muschel, und Schaum quillt ungesund auf den Bühnenboden. Ich rutsche aus. Im Fallen sehe ich den C5-Scheinwerfer, wie er eine gleissende Bahn durch mein Gesichtsfeld zieht. "Die Bananen", denke ich noch. "Die Bananen".
 

Sonntag, 28. Mai 2017

Die Dinge der Welt

Die Dinge der Welt liegen in einer bestimmten, unverrückbaren Ordnung.
Zwischen den Dingen ist ein Schimmer, der irrt durch die Dinge und zwischen den Dingen und über die Dinge hinweg wie ein banges Sehnen. Ein Schauen fast, ein Seufzen.
Ich tauche im Schimmer, und ich tauche lang und weit, in der Erinnerung nur ein Hauch, eine Ahnung von Zeit.

Das trockene Laub zu meinen Füßen brandet wie Wellen unter mich, trägt mich, hebt mich und schickt mich fort von hier. Im Zurückschauen die Idee einer Erscheinung. Verblüffung. Das also wäre gewesen.  

Donnerstag, 2. Februar 2017

Mußestunde

Angewidert vom Gestank versuchte ich, das Zeitmonster zumindest auf Armlänge von meiner Kehle fernzuhalten. Es schrie und tobte und schlug mit seinen knöchernen Bohrfortsätzen nach meinem Gesicht. So ähnlich musste sich ein Alphornkonzert in einer engen Höhle anhören, mit zehnfacher Geschwindigkeit und doppelter Lautstärke abgespielt.
Das Zeitmonster (ZM) nahm mir leider etwas von der morgendlichen Wärme der Sonne, derentwegen ich mir extra den Liegestuhl zurechtgerückt hatte. Bald würde sie ohnehin schon wieder hinter der großen Kiefer verschwinden, also empfand ich die Störung nur umso ärgerlicher. 
Das ZM fing an zu sabbern. Genaugenommen hoffte ich aber nur, dass es sich um Sabber handelte und nicht etwa um Schlimmeres, denn die fleischig verquollene Körperöffnung war nicht eindeutig einem Zweck zuzuordnen. 

Ich dachte an den Berg, auf dem ich ruhte vor Urzeiten und zusah, wie die Wasser sanken ohne Aufschrei in die Asche. Dazu ein Bett vor einer graugetünchten Ziegelmauer, und ein Fenster, groß und mit gewölbtem Sturz. Dahinter eine seltsam friedliche Stadt, wie eingefroren im roten Sonnenuntergangsschimmer. Und ein Pfeil, der rotiert, sendet Schatten und Licht.