Mittwoch, 10. März 2010

Montage (vgl. montieren)


Toter Wind. Gestorben.
Oder nur eine abgestossene Hülle? Das Gebilde hängt noch obszön verrenkt im Birnbaumwipfel. Schaulustige. Die üblichen Verdächtigen; der Dorfirre mit seinem gramgebeugten Vater, Herr Niedermaier, der Gemeindearbeiter und Friedhofspfleger, meine grenzdebile Nachbarin mit ihrer Jüngsten und dem kleinen Hund, dessen Rasse ich mir nicht merken kann, die zugezogenen Ossis, gerade krankgeschrieben wegen Rheuma. Oder war es Gicht? Eine leise brummende Ansammlung.
Toter Wind. Oder nur eine abgestossene Hülle? Besteht Seuchengefahr? Wie ist er überhaupt gestorben? War es ein Unfall? Ich gehe weg. Ich war ohnehin der Einzige, der wirklich rein zufällig vorbeikam. Auf meinem Gang kommt mir ein Mann mit einer langen Stange entgegen, an der ein kleiner eiserner Haken angebracht ist. Man verwendet solche Stangen normalerweise, um im Herbst Obst von den Bäumen zu schütteln. Heute also wird toter Wind herabgeschüttelt, oder vielmehr gezerrt, stelle ich mir vor. Denn die Windleiche hatte die ganze Baumkrone durchdrungen, war in sie eingesunken wie Vanillepudding in ein vollgespicktes Nadelkissen. Ich freute mich auf den Film.
Im Kino bin ich der erste Besucher, es ist noch völlig leer. Ob noch jemand kommt? Aus unsichtbaren Lautsprechern dringt angenehme Musik. Ich kenne den Sänger nicht. Schlagzeug, Klavier und noch etwas anderes, das ich nicht erkenne. Ein gezupftes Cello? Er hat eine Stimme wie der junge Cat Stevens, es scheint eine Ballade zu sein, Herzschmerz und Weltenleid. Romantisch, sehnsüchtig, eindringlich. Schön. Ich stelle mir vor, eine CD von ihm zu hören, an einem späten Sommernachmittag, womöglich sogar ein Sommersonntagnachmittag, blauer Himmel, zerfetzte Cumuluswolken, kreisende Habichte weit oben. Wie in "A Serious Man", der Film, der nun beginnt. Amerikanische Vorstadt, gepflegt, eintönig, kleinbürgerlich, langweilig. Eine jüdische Gemeinde, ein Professor, dem das Leben zunehmend übel mitspielt, er beobachtet vom Dach seines Hauses zufällig seine sonnenbadende Nachbarin. Sie ist nackt. Später besucht er sie unter einem Vorwand. Natürlich ist sie mittlerweile angezogen, doch ihre Miene ist ernst, sie lächelt nicht, versprüht aber dennoch, oder gerade deswegen, eine Erotik, welche Zeit und Raum krümmt. Ereignishorizonte. Darunter, im Inneren, vergeht keine Zeit. Inseln der Zeitlosigkeit. Sommersonne. Am besten mit Sturm. Oder ist er tot? Grüne Gischt, blauer Himmel, warme Füße, Lüftungsgeräusch, Sonnenstrahlen, die schräg durch die großen Fenster des Altersheims scheinen. Herantasten an Gedanken. Kapitale Gedanken. Siebzehnender. Gedanken an nackte Frauen.

Junge Frau: "Morgen ist Samstag!"
Alte Frau: "Warum?"

Auf dem Heimweg fand ich einen Mann in einem Gully. Er guckte durch die eisernen Stäbe nach oben und schien in eine Gebet versunken.

"Brauchen Sie Hilfe?" fragte ich.

"Oh ja, danke", rief er freudig erregt nach einer kleinen Schrecksekunde, "könnten Sie bitte auf mich draufpissen?" Er legte nun seine dicken Finger um die Eisenstäbe, die Knöchel wurden weiß, doch er rüttelte nicht an seinem Gefängnis, er hielt sich nur fest, erwartungsvoll.

Ich schaute mich verstohlen um, ob jemand in der Nähe war. Nein, niemand zu sehen. Ich konnte mich also problemlos aus dem Staub machen, ohne der unterlassenen Hilfeleistung geziehen zu werden. Ich wich rückwärts zwei Schritte zurück und drehte mich dann um. Der Mann im Gully merkte meine Absicht und schrie hinter mir her:

"Blöde Memme, komm zurück, ich will deinen blöden Arsch hier über mir haben!"

Ich drehte mich um und ging zurück. Eine Woche zuvor hatte ich meine Schuhe neu besohlen lassen, sehr grobstollig und griffig. Mit dieser groben Sohle trat ich nun langsam auf die rosafarbenen Finger, die über die Gullystäbe hinausragten. Der Mann knirschte zuerst mit den Zähnen, dann heulte er auf. Doch bevor er etwas sagen und mich mit neuerlichen Schmähungen beleidigen konnte trat ich über ihn hinweg und machte mich aus dem Staub. Ich fragte mich, warum ich solche Sachen nicht einfach träumte um sie dann einen Sekundenbruchteil nach dem Erwachen wieder zu vergessen.



2 Kommentare:

Dona Quijota hat gesagt…

....und schon hast Du uns wieder sprachlos gemacht.

War´s der Westwind, war´s der Ostwind..?

Dona Q.

Moves hat gesagt…

ich hoffe, sprachlos vor ehrfürchtigem Erstaunen und nicht vor entsetztem Aberwillen? Wobei...sprachlos ist eigentlich immer gut ;-) Danke!

Ob West- oder Ostwind ist noch nicht entschieden. Tatsächlich ist noch gar nicht mal sicher, ob Wind überhaupt sterben kann... Fast fürchte ich, die Leute stochern und stupfen da mit ihren Haken im ausserirdischen Äquivalent eines Toilettenklumpens herum, wie sie zuweilen von großen Passagiermaschinen verloren werden...

M. ;-)