Dienstag, 30. März 2010

Vor der Pinkelrinne



Auf meinem Ohr Schalldruck und eine Art Klingeln, fast ein Pfeifen. Ich drehe meine Gesicht und merke, dass jemand aus einem Abstand von ca. 3 Zentimetern in meine rechte Ohrmuschel hineinschreit. Der Schalldruck fluktuiert, es handelt sich also vermutlich um Worte. Natürlich könnte es sich auch um einen monotonen langgezogenen Schrei handeln, der lediglich durch ein niederfrequent interferierendes Paralleluniversum zu einer wortähnlichen Resonanz angeregt wird, doch das ist eher unwahrscheinlich.
Ich kann jetzt den Gaumen hinten in dem Mund sehen, der mich weit aufgerissen und mit einem Speichelfaden zwischen oberen und unteren Schneidezähnen anschreit. Außer natürlich bei m- und p-Lauten, die ein kurzzeitiges Schließen der Lippen erforderlich machen. Durch den enormen dynamischen Druck der Schallwellen werden meine Augäpfel etwas eingedrückt, trotzdem kann ich die kleine eintätowierte Schrift auf dem Gaumenzäpfchen entziffern:

"Made for lovin´You"

Verwundert versuche ich meine zerdätschten Augen auf Nähe zu fokussieren, um mehr über das schreiende Gesicht im Vordergrund zu erfahren, doch es will mir nicht gelingen.
Ich versuche also, die Augen zu schließen und mich auf die Pinkelrinne vor mir an der Wand zu konzentrieren. Die Schallwellen aus dem schreienden Mund kräuseln den Urinfluß, der in der Rinne dem Abflußsieb entgegenplätschert. Ein Placken Putz löst sich durch die Erschütterung aus der Wand und poltert gegen den Rinnenrand, ehe er auf dem Fußboden aufschlägt und zerspringt, nur knapp neben meinem linken Schuh. Ich bin froh, dass er nicht in der Rinne selbst gelandet ist.



6 Kommentare:

Linnea hat gesagt…

Du liest auch gerade Heidegger? Abstraktes Hören par excellence!

Dona Quijota hat gesagt…

Mich interessiert ja viel mehr was Du für Leute kennst.. mit gewissen Tatoos auf spektakulären Körperstellen (jiiihaa.. was für ein herrliches Bild in meiem Kopf beim Lesen - überhaupt waren das viele Bilder.. ich hab´ geglugst, gestaunt, gelacht, fast hätte ich applaudiert, und fast wäre ich der Versuchung unterlegen genau das als Film zu drehen..).

Spuck´s aus.. wo hast Du Dich rumgetrieben?

*freut sich vor sich hin*
Dona Q.

Moves hat gesagt…

@Linnea:
Ich habe einst, vor langer Zeit, mich an Hegel versucht. Doch ein einziger Absatz aus einem ganzen Regalmeter genügte, um in mir den zarten Keim der Philosophiererei verdorren zu lassen wie eine Amöbe auf dem Auspuffkrümmer eines V8-Rennmotors im Leistungsprüfstand.
Seitdem vermeide ich Philosophen soweit es nur geht, sogar einen Heidegger.

Moves hat gesagt…

@Dona Quijota:
Ich bin mir gar nicht so sicher, dass jenes Tattoo speziell an mich gerichtet war. Ich könnte mir viel eher denken, dass es vielleicht das Werk eines gelangweilten Chirurgen war, der dem Gesicht einst die Mandeln entfernte, sich dabei aber dermaßen unterfordert fühlte, dass er nebenbei ein wenig für sein bevorstehendes Tätowierstaatsexamen übte und gleichzeitig seinen tiefen Gefühlen gegenüber der Besitzerin bzw. des Besitzers des Gesichts Ausdruck verlieh.
(Wobei ich mir nun gar nicht mal mehr sicher bin, ob da überhaupt ein ganzer Mensch dranne* war an dem Gesicht, vielleicht klappte es auch einfach von der Decke nach unten, an einem eisernen Stahlrohrrahmen, rastete in meiner Ohrhöhe ein und widmete sich seiner Aufgabe)

(*dranne: berlinerisch für dran)

Dona Quijota hat gesagt…

Auch wenn es so sein sollte, dass sich das Gesicht an einem Stahlrohrrahmen herab senkte. Die eintätowierten Worte waren gewiss nur für für Dich. Nicht für den Pinkler vor Dir oder nach Dir. Es wartet all die Zeit auf die Erfüllung seines Schicksals, an diesem Tag, an diesem Ort endlich auf Dich zu treffen...

Habe ich auch erwähnt wie nahe mir die bildliche Vorstellung der Schallwellen gingen, die auf Deinen Pinkelstrahl trafen? Ich bin noch immer hin und weg..

*ganz beglückt*
Dona Q.

Moves hat gesagt…

Das ließe sich zwecks bildlicher Dokumentation bestimmt bei Gelegenheit einmal nachstellen, liebe Dona Q.! Nur, wer kann so laut schreien? Bin mir nämlich nicht sicher, ob das Schreigesicht aus der Geschichte ein reproduzierbares Phänomen ist. Vielleicht hat es sich für mich tatsächlich nur ein einziges Mal manifestiert.
In diesem Falle müsste jemand anders den Schreipart übernehmen...

Moves ;-)