Sonntag, 14. November 2010

Wenn´s regnet (VI)


Der Untergrund unter der Handbreit Wasser fühlte sich femdartig glatt und nachgiebig an, ähnlich dem Gummifußboden im Jungensumkleideraum der Turnhalle von Namensuchmanns alter Schule. Er konnte sogar eine Art grobes Noppenmuster ertasten. Regelmäßige, erhabene Kreise, genau wie damals. Nur ob auch die Farbe mit seiner Erinnerung übereinstimmte, konnte Namensuchmann nicht beurteilen. Der Fußboden war giftgrün gewesen und hatte stets wie das Chemielabor vom Lehrer Dr. Lages gerochen. Jetzt jedoch war es stockfinster, der Regen prasselte auf die bladdernde Wasserfläche und auf Namensuchmanns Rücken. Da er immer noch auf allen Vieren kauerte, ergossen sich Regensturzbäche von seinem Hinterkopf hinab in sein Gesicht, um dann von seiner Nase ins Dunkle zu fallen. Es gab nicht die geringste Reflexion auf den Tropfen oder den blubbernden Blasen auf dem Wasser. Die dicken Tropfen machten bestimmt Blasen auf dem Wasser, dachte sich Namensuchmann. Er erinnerte sich an früher, als er bei diesen warmen Sommerregen durch die Pfützen gesprungen war, in denen dicke Regenblasen schwammen. Die Dunkelheit war perfekt; als wäre Namensuchmanns Kopf mit dem Gesicht nach unten in ein großes, weiches und pechschwarzes Samtkissen vergraben.
Das konnte nur ein Traum sein. Das musste ein Traum sein. Die Panne. Die war real gewesen, soviel war klar. Doch wohin war er eigentlich unterwegs gewesen? Namensuchmann erschrak bei dem Gedanken, dass er sich nicht mal mehr an den Zweck seiner eigenen Autofahrt erinnern konnte. Was war sein Ziel gewesen?
Die Antwort schien gar nicht allzu tief verschüttet zu sein, sie kitzelte und lauerte knapp unter seinem Bewusstsein. Doch was war von einem Bewusstsein zu halten, das solche Szenarien delirierte? Vermutlich hatte er nicht nur eine Panne, sondern einen schweren Unfall und lag nun narkotisiert auf einem OP-Tisch, die Schädeldecke geöffnet und sein Gehirn grau und rot der gleissenden OP-Beleuchtung und dem Skalpell des Chirurgen ausgeliefert. Nur, anstatt sich selbst und das Operationsteam von oben zu sehen, unternahm er Spazierfahrten mit antiken Bentleys und geheimnisvollen Chauffeuren, die im Regen rauchten und gegen seltsam leuchtende Instrumente klopften.
Am besten wartete er einfach ab. Irgendwann werden sich der prasselnde Regen und die Dunkelheit verabschieden und der wohligen Wärme und Helligkeit einer gemütlichen Intensivstation weichen. Zeit, aufzuwachen und mit der Schwester zu flirten. Vielleicht, durchfuhr es Namensuchmann, konnte er sogar einen Blick auf sein Krankenblatt werfen. Auf die Kopfzeile. Auf den Namen, der dort stehen würde. Es würde sein Namen sein.
Namensuchmann war plötzlich freudig erregt.

Doch nichts änderte sich.


Namensuchmann versuchte sich zu konzentrieren; aufwachen durch pure Willensanstrengung. Plötzlich entwandt sich seiner Kehle ein würgender Laut, der sich jedoch seltsam wohltuend anfühlte. Ein gepresster Summton, überlagert von dumpfem Krächzen. Namensuchmann stieß ihn erneut aus, lauter diesmal und länger. Der Ton vermochte sogar das Rauschen des unsichtbaren, dunklen Regens zu übertönen, doch er vermochte nicht die Welt zu ändern.


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