Mittwoch, 17. November 2010

Wenn´s regnet (VII)



"Scheisse Scheisse Scheisse!"

Namensuchmann keuchte. Am liebsten hätte er noch ein weiteres mal "Scheisse" gebrüllt, doch ein Hustenanfall machte sein Vorhaben zunichte. Seine Kehle war noch rauh und kratzig von den unheimlichen Würgsummgeräuschen, die er ausgestossen hatte. Sie hatten eine seltsam reinigende Wirkung auf seinen Gemütszustand, der nun doch langsam anfing, unter der gegenwärtigen Situation zu leiden. Doch was die Seele labte, kratzte in der Kehle.

"Scheisse Scheisse Scheisse!"

Es ging wieder, diesmal ohne Hustenanfall. Namensuchmann schlug mit der Faust auf die Wasseroberfläche und den darunterliegenden Gummiboden ein. "Scheisse Scheisse Scheisse!"

Wasser spritzte ihm ins Gesicht bis er wieder husten musste. Dann schluchzte er. Ein unwillkürlicher, unvermittelter Schluchzer ohne Vorwarnung, der ihm aus der Kehle drang wie ein gefangener Iltis, dem man den Deckel seiner Falle aufmacht. Namensuchmann verspürte plötzlich ein tiefes Bedürfnis, seine Stirn auf seine Fäuste zu legen, die nun aneinandergefügt auf dem Noppenboden ruhten. Doch das Wasser stand zu hoch, Nase und Mund bekamen keine Luft mehr. Bequem war diese Haltung auf Dauer nicht. Er erinnerte sich, weshalb er überhaupt aus dem Bentley ausgestiegen war und sich in diese unrühmliche Kauerstellung begeben hatte.
Der Fahrer.
Er musste nach dem Fahrer suchen. Vermutlich war er bei dem Unfall herausgeschleudert worden und lag jetzt irgendwo, nicht weit von dem Auto entfernt, auf dem seltsamen Boden. Namensuchmann dachte erschrocken an das stehende Wasser. Es waren schon Leute in flacheren Pfützen ertrunken, wenn sie nur hilflos genug waren.
"Haaaallo"
Keine Antwort. Nur das Rauschen von millionen pervers dicker Regentropfen auf Wasser, dickes Vorgkriegsblech und gewachsten Baumwollstoff.
Namensuchmann tastete mit seiner Rechten nach dem Bentley und fühlte sich erleichtert, als er das harte Trittbrett berührte. Doch wie sucht man bei völliger Dunkelheit nach einer hilflosen Person, die sich nicht bemerkbar machen kann? Der Bentley war nun ein Fels, ein Fixpunkt, den er nicht verlieren durfte, er würde der Nullpunkt seines Suchrasters bilden. Am besten kroch er erst einmal rund um das Fahrzeug herum, vielleicht befand sich der Fahrer ja in Reichweite seines linken Armes, während er mit dem rechten den Kontakt zum Bentley hielt.
Kriechend und rutschend, dabei nach dem Fahrer tastend und triefend vom Regen, arbeitete sich Namensuchmann an dem langen Kotflügel entlang nach vorne, in perfekter Dunkelheit.
Bald fühlte er das Vorderrad, der Reifen war intakt und ohne Luftverlust, als ein heftiger Schmerz sein linkes Knie durchzuckte. Es war von einer kleinen Erhebung unter Wasser abgerutscht. Namensuchmann versuchte, das Hindernis zu ertasten. Es war eine flache Erhebung mit einer geraden Kante, wie mit einem Lineal gezogen, und reichte linker Hand weiter in die Dunkelheit als Namensuchmann erfühlen konnte. Rechter Hand verschwand die Erhebung unter dem Bentley, sein Vorderrad war darauf zum Stehen gekommen. Kaum einen halben Meter weiter fiel die Erhebung genauso unvermittelt wieder ab, wie sie sich erhoben hatte. Auch hier schien die Kante schnurgerade, ja sogar parallel zur ersten Kante zu verlaufen. Es war eine dicke Linie, dachte sich Namensuchmann. Eine breite, einige Zentimeter hohe Linie, die aus dem Nichts zu kommen schien und offensichtlich quer unter dem Bentley hindurchlief. Das Vorderrad stand mittig darauf. Namensuchmann kroch weiter und war schon halb um die vordere Stoßstange herum, als er eine weitere Kante spürte, aber diesmal nicht mit dem Knie. Sein hin und herwischender Arm hätte sie beinahe verfehlt, erst im letzten Moment berührten seine Fingerkuppen die neue Linie. Sie verlief in einem 45° Winkel an der Schnauze des Bentleys vorbei. Auch hier konnte Namensuchmann weder Anfang noch Ende ertasten. Er überlegte jedoch, dass sich die beiden Linien nicht weit von ihm entfernt kreuzen mussten. Was diese Information im Augenblick oder später einmal wert sein mochte, darüber wagte er in diesem Moment nicht zu spekulieren. Es galt, den Fahrer zu suchen.
Das rechte Vorderrad stand ebenfalls auf einer Erhebung, es musste dieselbe Linie sein, die er als erstes entdeckt hatte und die unter dem Bentley hindurchlief. Auch auf dieser Seite konnte Namensuchmann ihr Ende nicht ertasten. Jedenfalls nicht, solange er noch Kontakt mit dem Auto hielt. Die rechte Seite war die Fahrerseite bei diesem monströsen alten Unikum. Wenn der Fahrer hinausgeschleudert worden war, dann lag er sicher hier ganz in der Nähe.
"Haaaalloooo"
Keine Antwort. Namensuchmann überlegte. Erst das ganze Auto umrunden und eine Zone bis 1,5 Meter Entfernung absuchen? Oder auf gut Glück dieser Linie folgen, weg vom Bentley, hinaus in die rauschende und prasselnde Leere? Fast schmunzelte er bei diesem Gedanken. Hinaus in die Leere. Wo war er denn jetzt, wenn nicht in derselben Leere? Alles, was die Leere dort von der Leere hier unterschied, war der kaputte Haufen Metall und Gummi neben ihm. Doch war er wirklich kaputt? Die Räder schienen in Ordnung, und die Front hatte auch keinerlei Anzeichen einer Beschädigung gezeigt. Kurz war Namensuchmann von diesem neuen Aspekt wie elektrisiert. Es konnte doch nicht so schwierig sein, das Ding zu starten. Er versuchte, sich zu erinnern, wann der elektrische Starter erfunden wurde. Bentley war eine Luxusmarke gewesen, ihrer Zeit immer etwas voraus. Dann fielen ihm die Scheinwerfer ein. Was hätte er dafür gegeben, wenigstens ein kleines Fünkchen Licht zu sehen. Wenn die Scheinwerfer jedoch nicht mehr funktionierten, war an Fahren überhaupt nicht zu denken. Warum aber sollten die Scheinwerfer nicht mehr funktionieren?
"Scheisse Scheisse Scheisse"
Das tat gut. Namensuchmann beschloss, solche im Moment noch unnötigen Gedankenspiele zu unterlassen. Der Fahrer lag vielleicht im Sterben, er musste ihn finden.
Er ließ den Bentley los und kroch auf die Linie. Eine Hand legte er auf die linke Kante, die andere auf die rechte Kante. Obwohl das Wasser nur eine handbreit hoch stand auf dem Noppenboden, war auch die Oberseite der Linie noch mindestens zwei fingerbreit überspült. Namensuchmann schluckte. Die Linie fühlte sich plötzlich an wie ein Schwebebalken, mit Abgründen links und rechts. Dass die Wasseroberfläche immer noch unverändert war, vermochte die aufsteigende Panik nicht zu vertreiben. Namensuchmann ließ die rechte Linienkante los und tastete nach dem Noppenboden. Er war noch da. Eine handbreit unter dem Wasserspiegel. Namensuchmann schluckte nochmals. Dann kroch er los. Auf allen Vieren.




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