Sonntag, 29. Mai 2011

Morgengespräch


"Ach ja, Hedi, dieses Unkraut, einfach fürchterlich"


Langsam, wie ein großer Öltanker, kam Leni Brönske mit ihrem Rollator zum Stehen. Doch trotz der mittlerweile schon halbjährlichen Gewöhnung an dieses respektgebietende Gefährt hatte sie den Bremsweg falsch eingeschätzt und musste um einige Zentimeter zurückruckeln, ehe sie ohne räumliche Verzerrung direkt auf Hedi Sudermann hinabblicken konnte.

"Ah ja, Leni, ja ja"

Hedi Sudermann kniete auf etwas erhöhter Warte hinter einem kleinen Mäuerchen, das ihren Garten vom Gehweg und der Dorfstraße abgrenzte. Sie trug wie gewöhnlich ihren Gartenstrohhut, eine geblümte Kittelschürze und bequeme dunkelblaue Hosen. Ihre Füße steckten in groben Plastikclogs. Unter ihre Knie hatte sie ein Schaumstoffpolster gelegt, das ihr Enkel ihr vergangenen Winter aus seiner nicht mehr benötigten Schwimmhilfe gebastelt hatte. Es schien, als hätte sie mit ihrem linken Knie soeben den Kopf eines armen blauen Schlumpfes zerquetscht.
Mit einem unheimlichen Krachen extrahierte sie soeben einen fetten Löwenzahnstrunk, der es unvorsichtigerweise gewagt hatte, genau zwischen ihren prächtigsten Blaukissen eine freche gelbe Blüte zu treiben. Im hohen Bogen flogen nun Strunk und Blüte auf einen noch recht bescheidenen Unkrauthaufen. Hedi Sudermanns Unkrauthaufen waren schon immer recht bescheiden gewesen, da sie niemals Gelegenheit bekamen, über die Maßen anzuwachsen, die Hedi noch auf einmal auf ihre Gartengabel spießen konnte. Alles andere wäre unschicklich gewesen direkt so an der Straße wo die Leute vorbei gingen.

"Wenn man mal nicht dazu kommt, schon wird alles überwuchert. Der Helmut musste gestern erstmal die Brennnesseln rausreissen. Erst wollte er sie ja nur abmähen, aber ich sagte, die müssen mit den Wurzeln raus, sonst nützt alles nix", meinte Leni, während sie die lange Reihe von Hedis Blaukissen musterte, die prächtig von dem Mäuerchen fast bis zum Gehweg hinunterhingen.

"Ja ja, am besten macht mans selber. Wenn mein Otto im Garten werkelte, musste ich immer aufpassen, sonst war hinterher alles verkehrt. Aber er hatte es immer so wichtig. Ich war froh, wenn er überhaupt mal rausgegangen ist an die frische Luft." Hedi sprach, ohne aufzusehen. Stattdessen flog eine zusammengeknüllte Klebkrautranke auf den Haufen der Unglückseligen.

Die Blaukissen waren wirklich prachtvoll, dachte sich Leni insgeheim, doch sie konnte sich nicht dazu durchringen, es auch zu sagen. Stattdessen meinte sie, wie nebenbei "wir hatten ja auch mal diese Blaukissen, aber die wucherten so sehr auf unsere Treppe, zur Garage runter, und der Helmut hat gesagt, er will da nicht drüberstolpern und hat sie radikal zurückgeschnitten. Da sind sie eingegangen."

"Oh ja, die muss man am besten in Ruhe lassen, die sind eigentlich so dankbar", meinte Hedi, die nun doch eine kleine Pause machte, indem sie sich mit ihrem Hinterteil auf ihre Fersen niederließ, ihre Hände auf ihre Oberschenkel legte und ihren Blick über ihre blauüberwucherte Gartenmauer wandern ließ. Dann blickte sie zu Leni auf und wollte sich eben nach ihrem Bruder Karl erkundigen, als ein ungewöhnlicher Lärm die Hauptstraße hinaufschallte.

"ES HERBSCHTELT! ES HERBSCHTELT! ES HERBSCHTELT..."

"Oh jeh, der lange Hans, was hat er denn jetzt schon wieder?", fragte sich Leni laut und schaute in die Richtung, aus der die Rufe kamen. Um ihren Wahrnehmungsradius etwas zu erweitern, musste sie ihren Rollator etwas von der Gartenmauer weg und mehr in Richtung Straße drehen. Es sah aus wie die Bewegung eines Geschützturms auf einem Panzer.

"ES HERBSCHTELT! ES HERBSCHTELT!...."

Der lange Hans kam breitbeinig rennend die Straße herauf . In einem früheren Leben war er einmal Knecht auf dem Hildi-Hof gewesen, doch als der alte Bauer gestorben war und sein Sohn Haus und Hof an den Golfclub verkauft hatte, blieb für den langen Hans nur der Umzug ins Haus Obergwann, einer entsprechenden Einrichtung auf halbem Wege zur Stadt. Es war praktizierte Politik des Hauses, die Bewohner keinesfalls wegzusperren, und so kam es immer mal wieder vor, dass der lange Hans einem seiner inneren Impulse folgte und die Aussenwelt von immens wichtigen Dingen in Kenntnis setzen musste.

"Ha so ein Depp. Im Frühling!" meinte Leni missbilligend.

"Die Paula, die ist schon arg ´gschlage," sagte Hedi, während sie den näherkommenden langen Hans beobachtete, "mit so was in der Familie wär´s mir net wohl." Wobei sie offen ließ, ob sie nur Hans den verrückten Bruder Paulas meinte oder die Gene der ganzen Familie. Paula, die jüngere Schwester, hatte nie Kinder bekommen.

"Ha ja, die müssten den halt mal wegsperren. Man weiß ja nie, was so einem noch einfällt", raunte Leni bedeutungsschwer und rückte nun doch etwas näher an die Gartenmauer, die Hände fest an den Griffen des Rollators.
An diesem Dienstagmorgen waren nur sehr wenige Leute unterwegs im Dorf, und so musste der lange Hans sich sein Publikum mühsam zusammensuchen. Kreuz und quer rannte er schreiend durch die Straße und kam letztendlich direkt auf die beiden alten Damen zu. Seine Hose war ohne Gürtel und noch nicht einmal zugeknöpft, der lange Hans musste sie beständig mit einer Hand am Hinunterrutschen hindern. Er tat dies aber mitnichten aus Schamhaftigkeit oder Pietät, sondern einzig und allein, damit er nicht über seine Hose stolperte. Dies war offensichtlich bereits mehrfach geschehen, denn seine Knie und Ellbogen waren bereits grün und braun verschmutzt. Selbst auf seiner Stirn war ein Striemen brauner Erde zu sehen. Er trug keine Jacke sondern nur ein weißes Hemd, das hinten immerhin noch mit einem Zipfel in der Hose steckte. Diese war jedoch so weit derangiert, dass man die geblähte Windel darunter sehen konnte.
Kurz vor den Damen kam der lange Hans abrupt zum Stehen, doch um zu verschnaufen hatte er keine Zeit. Vermutlich waren sie längst hinter ihm her.

"ES HERBSCHTELT! ES HERBSCHTELT! ES HERBSCHTELT!" Seine Aussprache war alles andere als trocken, die beiden Damen wichen unwillkürlich zurück.

"Ja ja, isch ja gut, Hans", sagte Hedi von ihrer relativ sicheren Warte hinter dem Gartenmäuerchen aus, "es herbschtelt. Jetzt wissen wir´s. Wie geht´s der Paula?"

Der lange Hans schien einen Augenblick lang verwirrt, mit seiner freien Hand fuhr er sich über seinen feuchten Mund. Sein Blick wanderte kurz von Leni zu Hedi, ehe er wieder in unbekannte Fernen irgendwo die Straße hinunterschweifte. Sofort rannte er weiter.

"ES HERBSCHTELT! ES HERBSCHTELT! ES HERBSCHTELT!"

"Jesus Christus", keuchte Leni nun atemlos, "man ist seines Lebens nicht mehr sicher heutzutage", wobei sie sich theatralisch an ihren großen Busen fasste, hinter dem sich irgendwo mit aller Wahrscheinlichkeit ein Herz befinden musste.

"Ach, das ist ein armer Mann", beschwichtigte Hedi. "Wenn ich dran denk´, was sonst noch los ist in der Welt, dann wird mir erst richtig bang".

"Oh jeh, da sagst du was", seufzte Leni. "Wo soll das bloß noch hinführen mit diesen Ausserirdischen? Gestern sagten sie in der Tagesschau, sogar in Deutschland sind schon welche abgesetzt worden. Im Bayerischen irgendwo, ich hab´s nicht recht verstanden, der Helmut hat doch mein gutes Hörgerät zum König gebracht."

"Ich glaube, es ist bei Regensburg, beim Schwager von dem Hubert in der Nähe. Der hats der Michaela am Telefon g´sagt. Man kommt da ja gar nicht hin, ist ja alles abg´schperrt."

"Wenn die bloß nicht so hässlich wäret, dann würd man ja nix sagen", gruselte sich Leni vielsagend. "Allein scho dieses komische Ding, das die da zwische ihren Beinen hängen haben...Weltraumanzüge wie unsere Astronauten haben die ja keine. Dass das erlaubt ist..."

"Die Michaela hat g´sagt, das wäre denen ihr Rüssel, die hätten ihr G´sicht ganz woanders", sagte Hedi und machte sich daran, aufzustehen. "Aber es nützt ja alles nix. Die Arbeit muss trotzdem gemacht werden. Sie griff nach ihrer Forke und benutzte sie als Aufstehhilfe. Endlich oben griff sie sich mit beiden Händen ins Kreuz und dehnte sich ein wenig.
"Ach jeh, man wird halt nicht jünger"
Sie spießte das Unkraut auf und machte sich daran, nach hinten zum Komposthaufen zu gehen.

"Kommst du heute auch zur Abendandacht?" fragte sie im Weggehen.

"Nur, wenn der Helmut mich fährt, ich trau´ mich nicht mehr den ganzen Weg alleine" klagte Leni.

"Oh jeh"

"Früher hätt´s sowas nicht gegeben!" schimpfte Leni und schob ihren Rollator in Startposition.


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