Dienstag, 31. Mai 2011

Wenn´s regnet (XIII)



Die Ruhe war jetzt fast mit Händen zu greifen. Nur das leise Geräusch von Millionen Schneeflocken, die von einem unergründlich schwarzen Himmel herabrieselten war zu hören. Die Wasseroberfläche hatte sich wieder vollkommen beruhigt, nicht der kleinste Wellenschlag war mehr zu hören. Wer oder was auch immer nur ein paar Meter von Namensuchmann entfernt in das tiefe Wasser gefallen war, konnte vermutlich nicht schwimmen. Oder es konnte schwimmen, hatte aber in Panik die falsche Richtung gewählt, weg von der Kante, hinaus ins Nichts.
Nein, das war unwahrscheinlich, dachte sich Namensuchmann, würde er in diesem Falle nicht Rufe hören oder Schreie? Würde derjenige nicht versuchen, auf sich aufmerksam zu machen? Doch Affen schreien nicht um Hilfe. Sie schreien lediglich ihre Todesangst hinaus und gehen unter.

Kein Platschen, kein Tappsen, nur dicke, zähe absolute Dunkelheit. Und das Fallen der Flocken. Namensuchmann spürte sie sogar auf seinem Hinterkopf landen. Auf seinen Händen spürte er sie nicht, denn die hatte er unter seinem Gesicht verborgen, mit dem er nur einen Zentimeter über dem unsichtbaren Wasserspiegel kauerte, die Stirn auf seine Daumen gepresst. Hätte ihn jemand beobachten können in diesem Moment, er hätte vermutlich gedacht einen frommen Muslim vor sich zu haben beim Gebet nach Mekka.

Sein Magen knurrte. Er hatte Hunger. Namensuchmann fragte sich, ob das ein gutes Zeichen war oder ein schlechtes. Hunger bedeutete, in seinem Körper liefen die üblichen Prozesse des Lebens weiter ab, er war also schon mal nicht tot. Das war aber auch schon alles. Nicht tot sein. Immerhin. Aber vielleicht war das nur eine Frage der Zeit. Mit einer Hand fuhr er sich über seinen Hinterkopf und stellte überrascht fest, dass sich dort bereits eine regelrechte Kappe aus Schnee gebildet hatte. Er wollte den Schnee schon abschütteln, als er im letzten Moment daran dachte, dass er nicht nur Hunger, sondern auch Durst hatte. Der Schnee schmeckte köstlich. Die Kälte erfrischte ihn, er erntete den Schnee von seinem Kopf und seinen Schultern, von überall, wo er mit seinen Händen hinkam. Es schien kühler zu werden. Das handbreit hohe Wasser jedoch war immer noch weder kalt noch warm.

"Scheiße"

Namensuchmann erschrak. Seine eigene Stimme schien ein größerer Fremkörper in dieser Welt zu sein als er selbst. Sie hatte sogar die Macht, die Schneeflocken für kurze Zeit zum Schweigen zu bringen. Aus einem völlig irrationalen Gefühl heraus fürchtete er plötzlich, durch seine Stimme, durch ein unbedachtes Geräusch überhaupt den Schneefall zum Erliegen zu bringen. Dann hätte er nichts mehr um seinen Durst zu loeschen und wäre der dann einsetzenden Stille wehrlos ausgesetzt. Absolute Stille in absoluter Dunkelheit. Lieber nicht daran denken.

Der Magen knurrte erneut. Namensuchmann konnte nicht glauben, dass irgendetwas oder irgendwer ihn hierherversetzt hatte um ihn dann schnöde verhungern zu lassen. Andererseits schien es unwahrscheinlich, dass ihm irgendwann Pommes mit Mayo in den Mund fliegen würden, solange er hier auf allen Vieren und mit dem Gesicht nach unten in der Dunkelheit kauerte. Er seufzte. Die Linien. Er versuchte, sich zu orientieren. Eine Linie, die quer unter dem Bentley hindurchlief und einen guten Meter über den Unterwasserabgrund hinausragte. Eine zweite Linie, die er entdeckt hatte, als er sich um den Bentley herumgetastet hatte. Sie traf die erste Linie in einem spitzen Winkel links vom Wagen und verlief schräg nach vorne, die imaginäre Fahrtrichtung kreuzend. Dann die Linie, auf der er sich jetzt befand, eine fast rechtwinklige Abzweigung der ersten Linie. Wenn er ihr folgen würde, müsste er nach ein paar Metern auf die zweite Linie treffen, irgendwo weiter vorne. Wobei vorne in Fahrtrichtung des Bentleys bedeutete, des Nullpunktes in Namensuchmanns neuem Koordinatensystem. Er richtete sich auf, kratzte nochmals etwas Schnee von seinen Schultern, und kroch los.


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