Sonntag, 6. November 2011

Novemberhimmel


Der Nebel hing grau-weißlich oben am Himmel. Er war aber nicht gut beieinander heute, er musste sich auf den höchsten Waldkuppen abstützen und sank dort bedenklich tief zwischen die dunkelgrünbraunen Herbstbäume. Ich ließ mich davon nicht abhalten und lief trotzdem los, schön dünn angezogen, sodass ich auf den ersten zwei Kilometern etwas fröstelte. Das war genau richtig so. Denn zog ich mich dicker an, war mir zwar anfangs nicht kalt, dafür schwitzte ich dann gegen Ende der Joggingroute wie ein Schwein nach einem Boxkampf.
Der Engel und sein Zombie waren schon unterwegs; sie waren klar im Vorteil, was die Vorbereitungen für so einen kleinen Jogginglauf am Nachmittag betraf. Der Engel schien ohnehin nie Kleidung zu tragen, seine fluidale Körperkonsistenz war gleichzeitig auch eine Art Gewand, das nahtlos in seine Flügel überzugehen schien. Über die Atmungsaktivität einer solchen Konstruktion konnte ich nur spekulieren. Und ausserdem wusste ich ja nicht einmal, ob Engel überhaupt schwitzen. Noch nie war mir ein entsprechender Geruch an ihm aufgefallen.
Ob Zombies schwitzen weiß ich allerdings auch nicht, aber sie stinken bestialisch. Gott sei Dank nicht nach Schweiß, sondern eher nach Aas und Kloake. Doch selbst wenn Zombies schwitzen würden, meine Funktionskleidung würde ihm eh nicht passen, da er mindestens eineinhalb Köpfe größer ist als ich und ungefähr doppelt so breit.

Von Dehnübungen schienen meine Hausgäste auch nicht viel zu halten. Zombiemuskeln scheinen gegen Zerrungen gefeit zu sein. Es konnte sein, dass der Zombie den ganzen Tag völlig regungslos unter der Treppe saß. Dann sprang ihm der Engel von oben in den Nacken, und los gings im Galopp, erst am Friedhof vorbei und dann in den weitläufigen Wald. So auch heute. Von null auf 30 km/h in drei Sekunden. Sie waren schon zur Türe draußen, als ich den Tropfenfänger im hohen Bogen durch die Luft fliegen sah. Engel machte ihn immer ab, wenn er mit Zombie nach draußen ging, um ihn nicht allzuoft waschen zu müssen. Er hatte durchaus meine missbilligenden Blicke bemerkt, als er des öfteren den unappetitlich verfärbten Tropfenfänger zu meiner Wäsche in die Maschine gesteckt hatte. Irgendwann hatten wir uns dann darauf geeinigt, dass er das Ding nur noch zur 60°-Wäsche in die Maschine wirft und nicht mehr zu meinen empfindlichen 40°-Sachen.

Trotz des Hochnebels, der normalerweise einen windstillen Tag kennzeichnet, wehte eine ganz leichte Brise, die ganz sachte die gelbbraun-knusprigen Blätter an den Bäumen zum Herunterfallen überreden wollte. Ich lief meine übliche Waldrunde und dann aus purem Übermut noch einen Extraabstecher auf einem gewundenen Feldweg entlang eines schönes Waldrandes. Die Buchenäste mit ihren braunen kleinen Blättern hingen weit über. Stellte man sich mit dem Rücken zum Wald und schaute über die Landschaft, sah man ein dreigeteiltes Tableau: unten die grünen Wiesen, Wälder und vereinzelte Häuser, in der Mitte ein Querstreifen grauen Nebelhimmels, und darüber das überhängende Buchenlaubdach. An einer besonders schönen Stelle gibt es eine Bank für ruhebedürftige Spaziergänger, dort stieß ich auf meine beiden bereits erwähnten Mit- bzw. Vorausläufer, sie saßen einträchtig nebeneinander und schienen etwas am Himmel zu beobachten. Bei dem einen trüben Auge des Zombies war es natürlich schwer zu sagen, ob er wirklich etwas beobachtete oder nur zufällig in die entsprechende Richtung schaute. Doch der Engel schien wirklich fasziniert zu sein von dem was er sah, nicht einmal eine Ecke seines ätherischen Gewandes bewegte sich, seine Miene war pure Verzückung.

Ich hielt inne und blickte in die Richtung, in die meine beiden Freunde schauten. Unterhalb des überhängenden Blätterdaches tanzte ein einzelnes, braunes Buchenblatt im Wind. Es fiel nicht nach unten, sondern drehte sich und hüpfte in der leichten Brise frei vor dem dahinterliegenden grauen Nebelhimmel. Ich setzte mich zu den beiden auf die Bank, der Engel zwischen mir und dem Zombie.
Das Blatt rotierte wie wild auf der Stelle, völlig frei schwebend zwischen Himmel und Erde. Dann kamm es zum Stillstand, hielt kurz inne, ehe es drei bedächtige Hüpfer zur Seite machte. Dann stieg es langsam einige Zentimeter nach oben, um in einer sanften Wellenbewegung wieder nach unten zu sinken. Dann begann es wieder zu rotieren, immer in derselben Drehrichtung. Dann eine gemächliche Bewegung zur Seite, eine kurze Ruhephase, wieder ein paar Hüpfer, dann wieder schnelles Rotieren. Es war ein ausgelassener Tanz der Schwerelosigkeit, ein Freudenfest der Ausgelassenheit an diesem trüben Nebeltag.

Ich wusste natürlich, dass das Blatt an einem unsichtbaren Spinnenfaden hing, der sich irgendwo oben in den überhängenden Ästen verfangen hatte. Aber diese Erkenntnis tat der geradezu hypnotisierenden Wirkung dieses Tanzes keinen Abbruch. Ich wünschte, ich hätte eine Videokamera zur Hand gehabt. Ich hätte sie auf ein Stativ geschraubt und vier Stunden lang den Tanz des Buchenblattes vor grauweißem Himmel aufgezeichnet. Später dann hätte ich den Film an die weiße Wand einer angesagten Galerie projiziert. Aber so, dass er auch von draußen, von den vorbeieilenden Passanten hätte gesehen werden können. Die könnten dann verweilen und aus Zombie- bzw. Engelaugen auf das tanzende Blatt an der Wand gucken.

Wir saßen andächtig und schweigend auf der Bank. Das nassgraue Wetter sorgte dafür, dass wir nicht von Spaziergängern gestört wurden. Nach etwa einer halben Stunde war meine Laufhitze soweit abgeklungen, dass ich leicht zu frösteln begann. Es war aber ohnehin viel besser, wenn ich aufbrach bevor das Blatt wirklich zu Boden fiel, denn dieser Anblick hätte mich arg betrübt. Es war seltsam beruhigend zu beobachten, wie der Wind immer neue Blätter daran vorbei zur Erde taumeln ließ, das Zauberblatt aber weiterhin seinen fröhlichen Herbsttanz aufführte. Auf meinem Weg nach Hause hatte ich dieses Bild vor Augen: mein Engel und der Zombie einträchtig und wie hypnotisiert auf der Bank sitzend, das in der Luft gaukelnde Blatt bewundernd. Und mir fiel eine weitere Geschichte ein, die sich vor etwa 15 Jahren zugetragen hatte.

Ich befand mich mit meinem damals etwa sechsjährigen Neffen in unserer Reparaturgrube und schraubte irgendetwas an meinem Auto herum. In der Ecke der Grube hatte sich eine Hühnerfeder unserer federfüßigen Zwerghühner an einem unsichtbaren Spinnenfaden verfangen und rotierte wie wild in einem unfühlbaren Luftzug. Mein Neffe bemerkte die Feder und meinte:

"Schau mal, eine Kunstfeder"

Ich musste natürlich den Klugscheißer herauskehren und sagte:

"Das ist keine Kunstfeder, das ist eine echte Feder!"

Darauf begab es sich, dass die Welt ein kleines Stück lustiger und angenehmer wurde, denn mein sechsjähriger Neffe meinte daraufhin:

"Ja. Aber wie sie da hängt, das ist reine Kunst!"



4 Kommentare:

Antirationalistischer Block / Christian Erdmann hat gesagt…

Glad I found this place.

Moves hat gesagt…

Glad to read you here!

Cugel from SPON ;-)

Antirationalistischer Block / Christian Erdmann hat gesagt…

Ha! Elsa Lanchester, die "allerliebste" Deborah Kerr in "Nacht des Leguan"? Small world, great pleasure!
Aljoscha has left the SPON building.

Moves hat gesagt…

Genau derjenige! Aber die Winzigkeit der Welt hat damit nichts zu tun, und selbst der Zufall ist unschuldig, der saß benommen in seiner blauen Ecke und ließ sich gerade von Albert Einsteins Wiedergänger sein zugeschwollenes linkes Auge vereisen und kühle Luft zuwedeln, während die Zeit auf High Heels und knappem Bikini als Nummerngirl durch den Ring stolzierte mit einer siebzehnstelligen Zahl hoch dreiundzwanzigtausend auf dem neonleuchtenden Pappschild und mit dem Hintern wackelte. In der roten Ecke dagegen Schicksal, hechelnd und infolge mehrerer Kopftreffer unkontrolliert mit dem rechten Bein zitternd, während ein kleiner schmieriger Typ wie aus einem Rockyfilm ihm die Elekroden anlegte für einen nervlichen Neustart. Wie schön es jetzt hingegen wäre auf jener Terrasse über Puerto Vallarta alleine mit Deborah und ihrem Zeichenblock. Statt johlenden Pöbels die Brandung des Pazifiks, und Charlton Heston und die Skalps ganz weit weg.