Montag, 31. Oktober 2011

Feiertag!


Die Blase drückt, Namensuchmann springt vom Stuhl auf. Das Frühstück ist zwar noch nicht beendet, doch immerhin das warme weichgekochte Ei ist bereits verspeist. Der Rest kann warten. Mit voller Blase isst es sich nicht sonderlich entspannt.

Ein Sprung, und die Treppe ist erreicht. Ein Blick zur Haustüre, sie steht einen Spalt offen. Namensuchmann hatte sie absichtlich nicht ganz geschlossen, als er morgens die Zeitung aus dem Schuber geholt hatte. Ein wenig frische Luft würde dem Flur gut tun. Doch jetzt war da dieser offene Spalt nach draußen, und Namensuchmann fast noch in der Luft, ehe er auf der untersten Stufe der Treppe landen würde, die nach oben zum Badezimmer führt. Ein Sprung durch den Flur, eine offene Haustüre, eine volle Blase, und der gedeckte Frühstückstisch in der Küche mit der aufgebrochenen Schale des verspeisten Ei darauf. Namensuchmann war kurz verwirrt. Eine alltägliche Situation, oberflächlich betrachtet. Doch aus irgendeinem Grund versuchte sein Gehirn, diese Szenerie neu zu ordnen, in neue Zusammenhänge zu bringen. Eine Musterumstellung, fuhr es Namensuchman durch den Kopf, eine Neuordnung seiner Synapsen. Aus heiterem Himmel. Doch warum ausgerechnet jetzt, während dieses Sprungs auf die unterste Treppenstufe an diesem nebligen Montagmorgen?
Kurz vor der Landung riss die Realität dann tatsächlich für einen kurzen Moment auseinander. Der Türspalt wurde für einen Sekundenbruchteil zu einem waagrechten Mund aus Licht und Nebel. Die ballistische Flugbahn von Namensuchmanns Körperschwerpunkt dehnte sich zu unphysikalischen, fast traumhaften Weiten, seltsame Querverbindungen und Verstrebungen seiner Realitätsbezüge offenbarten sich wie von einem Gewitterblitz erhellt. Die Wirklichkeit, sonst eine hellgraue, heterogene Masse ohne eindeutiges Aroma oder gar Geruch wurde durchbrochen von Flugbahnvektoren und Lichtemissionen aus schwankenden, linearen Öffnungen und Durchgängen. Durch das Chaos drang die Erinnerung an einen bestimmten Duft in Namensuchmanns Bewusstsein. Er wusste jedoch nicht, war diese Erinnerung Auslöser oder nur Produkt dieser unerwarteten morgendlichen Denkattacke. Bis sein rechter Fuß die unterste Treppenstufe berühren würde, hatte er noch etwas Zeit. Wobei die Vektoren seiner Bewegung gefährlich in Richtung der zweiten Stufe zielten. Das wäre eigentlich kein Problem, er hatte schon oft die unterste Stufe ausgelassen, wenn er nach oben ins Badezimmer gestürmt war. Doch nun befanden sich in seinem Hirn Synapsen, die voll und ganz damit beschäftigt waren, sein rechtes Bein so zu koordinieren, dass sein Fuß auf die unterste Stufe treffen würde. Bei Gelegenheit würde er sich jedoch darum kümmern. Noch war genug Zeit, sich über das Skalarfeld der Liebe Gedanken zu machen. Namensuchmann erinnerte sich, dass man sich den Unterschied zwischen einem Skalarfeld und einem Vektorfeld am besten mit Hilfe einer Wetterkarte verdeutlichen kann. Die Temperaturverteilung bildet hierbei ein skalares Feld. Jedem Punkt auf der Karte ist genau ein Temperaturwert zugeordnet. Mehr braucht es nicht. Anders sieht es jedoch bei der Angabe der Windverhältnisse aus. Es genügt nicht, jedem Punkt auf der Karte einen bestimmten Wert für die Windgeschwindigkeit zuzuordnen. Denn man braucht zu jeder Windstärkenangabe immer auch die Richtung, aus der der Wind weht. Also zwei Angaben. Die Windverteilung bildet somit ein Vektorfeld. Stärke und Richtung. Wie Namensuchmanns Flugproblem, während er sich der Treppe näherte. Die Bedeutung der offenstehenden Haustüre war ihm allerdings unklar, auch wenn sich die schmale Öffnung noch mehrmals drehen sollte. Graue, homogene Realitätsmasse. Die Liebe ein Skalarfeld, ohne Richtung, doch mit einer Intensitätsverteilung wie ein Hochgebirgsplateau, das von zurückweichenden Gletschern freigegeben wurde. Die zweite Treppenstufe. Namensuchmann bereitete sich darauf vor.

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