Mittwoch, 12. Oktober 2011

Lars von Trier, Idi Amin und ein bißchen Zeit


Melancholia
ist ein sehr schöner Name für einen Planeten. Vorausgesetzt natürlich, man betont das i sehr lang und spricht das o nur ganz kurz aus. Melancholiiiiia! Aus irgendeinem nur schwer erfindlichen Grunde verlängerte ich gedanklich immer das o, obwohl ich das gängige Wort Melancholie durchaus stets auf der letzten Silbe betonte. Ich würde es heute noch so handhaben, wäre der Name nicht im Film mal ausgesprochen worden. So ganz nebenbei, ohne viel Aufhebens. Ich hätte den Moment fast verpasst, weil mir zwischendurch mal schlecht wurde wegen der exzessiv eingesetzten Wackelkamera, die bei Dialogen ohne Schnitt zwischen den Gesichtern hin- und herschwenkte. Eine immer weiter um sich greifende Unart der Regisseure.
Ich machte also während der ersten 20 Minuten meistens die Augen zu und genoss den Film als Hörspiel. Dann war´s wieder gut und ich ließ mich von den Bildern des Films berauschen. Märchenhafte, surrealistische Bilder. Eine nackte Kirsten Dunst. Einmal bar jeder Erotik, als sie es wegen ihrer Depression nicht mal mit Hilfe ihrer Schwester schafft in die Badewanne zu steigen, und einmal zum Anbeißen, als sie nackt ausgestreckt draußen im bläulichen Licht der groß und fett am Himmel stehenden Melancholia an einem Bachufer liegt. Dann irgendwann der Crash, der eigentlich eher eine Vereinigung ist. Kollisionen im All müssen ja nicht immer mit diesen aberwitzig hohen Geschwindigkeiten vonstatten gehen. Wird ein Planet "von hinten" eingeholt, kann sich das Ganze auch sehr langsam vollziehen. Wie in Zeitlupe. Als würde die Erde in den Schoß ihrer Mutter zurückkehren. Als würde ein Irrtum rückgängig gemacht.
Drei Menschen setzen sich auf eine Wiese und halten sich an den Händen: die beiden erwachsenen Schwestern und der etwa 8jährige Sohn von der Schwester ohne Depris, gespielt von Charlotte Gainsbourg, einer Schauspielern mit einer extrem nervigen Mundform. Der ganze Himmel ist eingenommen von dem auf die Erde zustürzenden Planeten, man kann schon Details seiner Oberfläche erkennen. Es wäre irgendwie doch schade um diese Welt, fährt es dem Zuschauer da durch den Kopf. Schade um die schönen Gärten, die schönen Klippen, das Meer und die schöne Kirsten Dunst, deren Mund alles andere als nervig ist.
Draußen dann, auf dem Heimweg, steht hell glänzend Jupiter am Himmel. Was wäre, wenn er jetzt plötzlich heller werden würde? Woher plötzlich einen geliebten Menschen nehmen, mit dem man händchenhaltend sich auf einer Wiese niedersetzen könnte? Was, wenn es Winter wäre oder Spätherbst und die Wiese nur eine nasse Eisplatte? Was, wenn sich Jupiter von der gegenüberliegenden Seite der Erde aus nähern würde und man ihn folglich gar nicht sehen würde auf dieser Seite? Dabei muss es ja nicht mal Jupiter sein, es geht schließlich auch einige Nummern kleiner.

Ich denke an einen Bericht im SPIEGEL, über Idi Amins ehemaligen Leibkoch. Idi Amin, ehemaliger ugandischer Diktator, hat natürlich auch einmal klein angefangen. Als junger Feldwebel hatte er die Aufgabe, ein Waffenlager von Viehdieben auszuheben. Aber die Viehdiebe wollten nicht sagen, wo es sich befindet. Also ließ er ihnen die Klamotten abnehmen und stellte den ersten vor einen Tisch, den Penis auf der Tischplatte. Dann hob Amin ein Buschmesser und fragte nochmal nach den Waffen. Der Mann verriet nichts. Sein Penis blieb auf dem Tisch liegen, er selbst wurde weggeschleppt. Erst der neunte redete schließlich. Scheißspiel. Mal davon abgesehen, dass ich persönlich mein Teil nicht für irgendwelche schrottigen Waffen opfern würde. Aber wieviel tragischer ist es für die ersten acht, wenn der neunte dann redet? Womöglich war der neunte ein sowieso unsympathischer Kotzbrockencousin vom ersten, der an der Reihe war. Was geht dann in dem ersten vor, vorausgesetzt, er hat überlebt? Ich stelle mir diese Situation vor, acht Penisse auf einer blutbesudelten Tischplatte, drumherum feixende Soldaten. Und oben drüber Melancholiiiia, den ganzen Himmel einehmend, man kann schon einzelne Wolken sehen in ihrer Atmosphäre, wie sie sich herabsenkt und es in grenzenloser Güte auf sich nimmt, diesen verkommenen Planeten zu entsorgen. Dann ist es plötzlich gar nicht mehr traurig. Nur noch ein bißchen. Melancholiiia über Massenschweineställen. Über Putenzuchtbarracken. Über einem Kaff in Mali, wo die Beschneiderin sich gerade über das Mädchen beugt. Melancholiiiia über acht einsamen Penissen in Uganda.

Wie fragil diese Planetengeschichte da draußen ist kann man sich nur schwer vorstellen. Natürlich gibt es keinen versteckten Planeten auf der anderen Seite der Sonne. Dessen gravitativen Einfluss hätten die Astronomen längst bemerkt. Aber die Gravitation ist die schwächste bekannte Kraft im Universum, und doch wird alles von ihr zusammengehalten. Ein winziger Schubbser, und alles geriete aus den Fugen. Ein dunkler Stern, der weit draußen unerkannt an der Sonne vorbeizöge, könnte ausreichen, um das ganze Planetensystem durcheinanderzuwirbeln. Mars auf Erde. Marserde in die Sonne. Jupiter schluckt Merkur. Zeit die vergeht. In der Atacamawüste in Südamerika kann man die Zeit anfassen. Man kann die Hand darauf legen. Über sie hinwegstreichen. Da liegen große Felsbrocken, viele davon mit einer vollkommen plan geschliffenen Seite. Die Geologen konnten nicht erklären, was für ein Mechanismus dafür verantwortlich gewesen sein könnte. Der Zufall kam ihnen schließlich zu Hilfe. Ein Geologenteam machte Rast inmitten dieser Wüstenfläche, die von Horizont zu Horizont reicht und übersät ist mit Steinbrocken in allen Größen. Dann gab es ein Erdbeben. Lagen zwei Brocken dicht beieinander, wurden sie durch das Beben aneinandergeschuckert. Nun dauert so ein Erdbeben ja nicht allzulange, und allzu oft kommt es auch nicht vor. Doch wenn man Millionen und Abermillionen Jahre Zeit hat, dann reicht dieses unregelmäßige Bebengeschuckere aus, um rauhe, unebene Steine völlig plan zu schleifen. Ob die Hand irgendwie schimmert, wenn man sie auf so eine glattpolierte Stelle legt? Oder gibt es kleine Funken aus Zeit, die überschlagen vor der eigentlichen Berührung? Sich hinsetzen, sich an so einen Stein lehnen und Zeit werden. Nach oben schauen und Melancholiiiia bewundern. An einen geliebten Menschen denken. Und an acht einsame Penisse auf einem Tisch.



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