Donnerstag, 31. März 2011

Der Ritt



Ich ritt das tote Pferd den ganzen Weg bis nach Laramie. Dort stieg ich ab und betrat den Dead Whore Saloon zur Mittagszeit. Die klare Frühlingsluft blieb an den quietschenden Schwingtüren hängen, drinnen roch es nach altem Bier und ranzigem Sattelleder. Langsam gewöhnten sich meine Augen an das düstere Zwielicht, ein einzelner goldener Sonnenstrahl, scharf gebündelt wie ein Laser, fand seinen Weg durch ein Loch im Fensterladen und beschien einen schmierigen Spucknapf als wäre es der Goldtopf am Ende des Regenbogens. Der tote Sheriff saß mit dem Rücken zu mir an der Bar und musterte mich müde im Spiegel. Dann spuckte er geräuschvoll über zwei Barhocker hinweg in den Spucknapf und stierte weiter vor sich auf sein halbvolles Glas Bier. Er hatte keine Lust, mir Ärger zu machen. Also ging ich nach oben und suchte mir eine von den toten Huren aus und wir ritten zusammen den ganzen Abend hindurch und in den Morgen hinein.

"Du vögelst wie ein Toter", keuchte sie mir dabei mehrmals in mein linkes Ohr und einmal auch in mein rechtes. Ich war mir nicht sicher, ob das als Kompliment gemeint war oder als Retourkutsche auf meine Knauserigkeit bei der Verhandlung um die Höhe ihrer Entlohnung. Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne sickerten bereits durch die Wände der billigen Bretterwände als ich mich anzog und nach unten ging ohne mich umzublicken. Der Sheriff saß nicht mehr an der Bar. Das Pferd war mittlerweile vollkommen verwest und kaum noch als solches zu erkennen. Ich hätte nicht absteigen dürfen. Und keine Seele in Laramie.


Donnerstag, 24. März 2011

O.T.


Der Tag hatte sich mit heisser Luft gefüllt und in die Vergangenheit erhoben.


Montag, 21. März 2011

Montag


Blauer Morgenhimmel, böiger Ostwind wie aus der Kältekammer.
Schnell in die noch kahlen Äste der Eiche hinaufklettern. Der Einstieg ist am schwierigsten. Hochspringen, um den untersten Ast zu erwischen. Klimmzug, dann ein Bein über den Ast, mit dem anderen am Stamm abdrücken, der Rest ist ein Kinderspiel. Weiter hinauf in die oberste Krone, wo die Äste nur noch handgelenkdick sind, und die nächste Böe abwarten.
Sie kommt mit der Wucht und dem Grimm einer Riesenfaust. Johlend und brüllend dem Wind eine Botschaft mitgeben, während die tanzenden Äste das Sonnenlicht zerfunkeln und zerstäuben und zermustern und über das Gesicht und die Augen sturmhuschen lassen.
Arbeitslose Windsimulanten von Epsilon Eridani wirbeln vorüber, gestikulierend, feixend und mit abgebrochenen Ästen die Symphonie des Windes dirigierend, dabei mit ihren Stummelflügeln pfeifend und surrend.
Ein alter Eimer scheppert und rumpelt über den Boden, inmitten eines Wusts von altem Laub, knusprig und eilig, die Fichten fuchteln und winken mit ihren langen schlaksigen Ästen. Frühling stürmt und stürzt wie losgelassen über Feld und Wald, trunken vor Glück.

Sonntag, 20. März 2011

Beim Putzen




"Heute ist der Tag der Poesie!"


"Dann fang´ gefälligst an zu reimen!"

"Reime alleine machen noch längst keine Poesie"

"Wem sagst du das"

"Irgendwie verstehe ich deinen barschen Einwurf jetzt nicht"

"Ich versuchte lediglich, dem Gespräch eine humoristische Note hinzuzufügen, indem ich durch gespielte Gereiztheit dich in die Lage zu versetzen hoffte, meinem Ansinnen...."

"Herrjeh, das Gespräch hatte ja noch gar nicht richtig begonnen. Es bedurfte noch überhaupt keiner Note, weder einer humoristischen noch einer gereizten. Wieso warten wir nicht einfach ab, wie es sich entwickelt?"

Beide Personen schweigen nun und widmen sich der Reinigung und Pflege ihrer Maschinenkanonen. Der süßliche Geruch von Waffenöl liegt in der Luft

"Gib´ mir mal bitte den Kuchen rüber. Aber tatsch´ ihn nicht mit deinen öligen Fingern an."

Während des Herüberreichens fallen ein paar Krümel auf den frisch geputzten und geölten Verschluss der BK-27

"So ein Mist! Liegt die Druckluft bei dir?"

Der Schlauch für die Druckluft wird über den Tisch geschoben, wobei er ein paar Bolzen und Schlitten durcheinanderbringt. Dabei meint die Person, die den Schlauch hinüberreicht:

"Ich habe heute meine erste Hummel dieses Jahres gesehen. Ein mordsfetter Brummer. Erst flog sie ziemlich ziellos durch die Gegend, als sie plötzlich geradewegs auf mein Gesicht zusteuerte. Glücklicherweise überlegte sie es sich wieder anders und bog vorher ab. Ich war sehr erleichtert. So ein Hummelaufschlag könnte einen direkt aus dem Gleichgewicht bringen."

"Ach je, die arme Hummel. Ist bestimmt nicht einfach, jetzt schon genügend Nahrung zu finden"

"Nun, es gibt schon eine Menge Krokusse, Schneeglöckchen und Märzenbecher. Auch die Weidenkätzchen stehen bereits in voller Blüte."

"Wieso eigentlich Gleichgewicht? Hast du auf einem Hochseil balanciert?"

"Wie sollte ich wohl an ein Hochseil gelangen? Nein, ich balancierte auf einem kleinen Ball, der auf einem Zaunpfahl lag. Sitzend. Mir tut jetzt noch der Hintern weh."

"Hm...wie dem auch sei. Während du auf deinem Hintern balanciert hast, überlegte ich, was man tun soll, wenn man seine Gedanken über etwas Fertiges schweifen lässt. Und zwar fertig nicht im Sinne von abgefuckt, sondern vollendet. Fertiggestellt. Wenn man über etwas Fertiges hinwegfliegt. Ein Industriegebiet z.B., mit Einkaufszentren."

"Ein schwieriges Thema."

"Ja, vor allem Industriegebiete sind sehr anstrengend. Jedenfalls, wenn man über sie nachdenkt, oder über sie hinwegfliegt. Gedanklich."

"Wegen der Schornsteine und dem Dreck?"

"Nein, sorry, ich habe mich etwas missverständlich ausgedrückt. Ich meine eigentlich diese Gewerbegebiete in ländlichen Mittelzentren, keine Schwerindustrie. Man fährt von einem Kaff ins nächste, und dazwischen, links und rechts der Straße, liegen diese Ansammlungen von Autohändlern, Tischlereien, Glasereien und des örtlichen Reifenservice. Dann noch ein Netto und ein Aldi. Meistens gibts auch noch einen Elektronikladen. Keinen Mediamarkt oder Saturn, eher was kleineres. Euronics zum Beispiel. Und ein dänisches Bettenlager."

"Übel"

Die eine Person lässt den Topbügel der Gau 2 einrasten und versetzt die Läufe in Rotation. Zufrieden fängt sie an, die Maschine in Ölpapier einzupacken. Auch die andere Person ist mit ihrer Bk-27 zufrieden. Ein winziger Flugrostfleck am Spannfederrohr muss allerdings noch entfernt werden

"Hast recht. Vor allem bei Sonnenschein fühlt man sich da immer wie hingekotzt. Ganz schlimm sind sonnige Sommersonntagmorgen in einem solchen Gewerbegebiet, womöglich noch mit Frühlingsglast in der Luft. Die Verortung an einen bestimmten Punkt der Erdoberfläche zerrt dann ganz besonders an den Nerven."

"Glast? Was hat das Gamma-Ray Large Area Space Telescope damit zu tun?"

"Nichts. Ich meinte Glast im Sinne von Helligkeit, Schein, Gefunkel"

"Achso"

Die Personen packen die Kanonen in die bereitstehenden Kisten und ziehen die Adressetiketten von den Folien.

"Hast du mir das Rezept von dem Kuchen?"




Mittwoch, 16. März 2011

Wenn´s regnet (X)



Namensuchmann legte sich auf den Rücken. Die unter dem schweren Regen blubbernde und prasselnde Wasseroberfläche reichte ihm bis an die Ohren. Die Augen musste er geschlossen halten, zu dick und dicht fielen die Regentropfen. Aber es war ja ohnehin stockfinster, also spielte es keine Rolle.

Langsam kroch das Wasser unter seine Jacke, die bis jetzt so bewundernswert dicht gehalten hatte. Doch nun war auch die vorletzte trockene Stelle an seinem Körper, ein suppentellergroßer Fleck zwischen den Schulterblättern, patschnass. Die andere Stelle befand sich auf seiner Brust, nur Millimeter unter dem hämmernden Ansturm des Regens.

Wie hatte das nochmal alles angefangen? Er war mit dem Auto unterwegs gewesen und hatte eine Panne. Dann die Dunkelheit, der Regen, der seltsame Oldtimer mit seinem noch seltsameren Fahrer, der Unfall, das Wasser und der Noppenboden darunter, die seltsamen, linienartigen Erhebungen darauf, die Lichterscheinungen, der riesige Affe, der den Bentley durchsuchte...

Der Affe! Er schien eigentlich ganz zufrieden und mit der Durchsuchung des Bentleys vollständig ausgelastet zu sein, als Namensuchmann seinem Blick begegnet war. Es sei denn, und nun wurde es Namensuchmann etwas mulmig, es sei denn, er suchte etwas zu fressen. Doch Affen greifen keine Menschen an, wenn sie sich nicht bedroht fühlen. So oder so ähnlich wurde es jedenfalls immer wieder in diesen strunzlangweiligen Natursendungen im Fernsehen erzählt. Selbst fleischfressende Affen wie Schimpansen oder Paviane wagten sich nur an viel kleinere Beute heran als Namensuchmann eine war.

Etwas war passiert. Etwas hatte sich verändert.

Namensuchmann wusste nicht sofort, was es war. Er drehte den Kopf, wobei ihm Wasser in den einen Gehörgang hineinlief. Er schaute wieder nach oben und lauschte. Das Rauschen und Prasseln des Regens war leiser geworden, eindeutig. Oder hatter er sich nur an das Geräusch gewöhnt? Nein, es fielen längst nicht mehr so viele Tropfen auf sein Gesicht wie vor ein paar Momenten noch. Der Regen ließ eindeutig nach. Ohne einen logischen Zusammenhang hoffte Namensuchmann für einen kurzen Augenblick, es möge nun auch Licht einkehren in diese seltsame Welt, wenn schon der Regen aufhörte. Doch es blieb dunkel.
Etwas kitzelte Namensuchmann auf der Nase. Erschrocken und fast panisch wischte er über sein Gesicht, doch er konnte nicht feststellen, was es gewesen war. Er beschloss, dass man sich in ausgestreckter Rückenlage wohl kaum effektiv gegen einen Riesenaffen verteidigen konnte, der einem mit einem Palmwedel im Gesicht kitzelt. Eine andere Erklärung hatte er nicht.

Es war nun fast ganz still, das Prasseln hatte aufgehört. Namensuchmann hockte auf seinen Knien immer noch auf der Linie, die sich unter der nun glatten Wasseroberfläche dahinzog. Seiner Erinnerung nach befand er sich etwa zwei Meter vom Ende der Linie und einen Meter vom Abgrund entfernt. Sehen konnte er noch immer nichts. Er überlegte, dass er vermutlich selbst bei Tageslicht den Abgrund nicht würde erkennen können. Die Wasseroberfläche würde keinerlei Hinweis darauf geben, denn von einer Strömung war noch immer nichts zu spüren, und auch keinerlei Wellengang, der sich an der Unterwasserkannte hätte brechen und sie damit hätte verraten können.

Etwas kitzelte nun auf seiner Hand, mit der anderen schlug er danach. Es war sinnlos, und doch schaute er sich um, schaute nach oben. Etwas weiches landete auf seiner Stirn, dann auf seinem Kinn. Er wischte es ab, bekam jedoch nichts zu fassen. Er rief sich innerlich zur Ruhe auf, richtete sein Gesich nach oben, und wartete.

Nach einer kleinen Weile wich die Anspannung einem Anfall irrationaler Heiterkeit. Namensuchmann schüttelte langsam den Kopf und kicherte. Kicherte über die Welt, die sich diesen Streich mit ihm erlaubte, kicherte über sich selbst, dass ausgerechnet ihm derartiges widerfuhr, und kicherte über die Gelassenheit, die ihm von irgendwoher zuteil geworden war.

Er breitete seine Arme aus und drehte die Handflächen nach oben.

Dicke weiche Schneeflocken rieselten auf ihn nieder.




Montag, 14. März 2011

Schock im Frühling

Ich erschrak nicht schlecht, als ich meine Liege aus ihrem Winterquartier geholt und geputzt hatte. Kann ich mich jemals wieder unbekümmert auf ihr entspannen?


Sonntag, 6. März 2011

Samstag, 5. März 2011

In der Anstalt



"O´zapft is!", rief der stämmige Mann in seiner weissen Pflegerkluft endlich. Mit drei geübten Schlägen hatte er den hölzernen Hahn seitlich über dem linken Ohr in den Kopf des Irren getrieben. Der gar nicht so unglücklich scheinende Irre war Herr Krautner, er wohnte seit nun schon 18 Jahren in der Einrichtung Kuschelrose, genaugenommen seit er an einem sonnigen Aprilmorgen mit zwei schweren Überseekoffern beim Pförtner vorgesprochen hatte mit der Frage, ob er für eine Weile seinen Vorgesetzten und seine Sekretärin im Pförtnerhäuschen unterstellen dürfe.
Zum alljährlichen Irrenanstich hatte sich wie jedes Mal ein illustres Völkchen versammelt, bestehend aus ortsansässigen Kreativen wie dem Werbetafelgestalter Blümcke, der Floristik- und Ikebanameisterin Weber und dem Rathausdichter Gonschek. Sogar der überregional bekannte Schriftsteller Herr Schaumbeiss stand in der bis hinaus in den Eingangsbereich sich erstreckenden Menschenschlange. Wegen des ausufernden Auftritts des Kinderchores vom nahen St. Stephanius-Kindergarten war man zeitlich etwas in Verzug geraten, weshalb sich unter den Wartenden bereits erster Unmut zu regen begann. Zwar wurde noch kein offener Protest vorgebracht, doch verschiedene mokante Bemerkungen über die verbesserungswürdige Organisation wurden in der Schlange der Wartenden bereits ausgetauscht, und zwar etwas lauter als nötig, sodass die Honoratioren vorne auf dem Podest es hören mussten.
Jeder in der Reihe war mit einem mehr oder minder großen Gefäß ausgestattet. Es dominierten Plastikkanister und große Mehrwegwasserflaschen. Herr Schaumbeiss hingegen hatte sich mit zwei leeren Senfeimern ausgerüstet, beide natürlich mit verschließbaren Deckeln, damit auf dem Heimweg nichts überschwappen konnte. Schaumbeiss beglückwünschte sich immer wieder aufs Neue für seine Voraussicht, mit der er sich beim letzten Schützenfest die beiden leeren Eimer gesichert hatte. Bei einem Eimer brauchte man keinen Trichter zum Befüllen, was die Verweildauer oben auf dem überfüllten und rempeligen Podest enorm verkürzte. Er was sich sicher, dass nächstes Jahr jeder andere auch mit Eimern ankommen würde.
Plötzlich war unzufriedenes Geraune zu hören, es kam von vorne, von dem Podest. Schaumbeiss reckte und streckte sich, um nach dem Grund zu spähen.
"Er ist leer!", rief der stämmige Pfleger ungläubig mehr zu sich selbst denn als Information für die Wartenden. Dr. Aegidius, der medizinische Anstaltsdirektor, trat von der Seite herzu und drehte an dem hölzernen Hahn, wobei sich Herr Krautners Kopf leicht mitbewegte. Doch ausser knatternder und pfutziger Luft trat nichts aus. Nicht der kleinste Tropfen.
Herr Krautner schaute erst zu Doktor Aegidius auf, dann zu dem stämmigen Pfleger und wieder zurück. Unsicher, ja fast schon schuldbewusst fragte er:
"Wann kommt´s? Bin voll"
"Da kommt gar nix", grummelte Doktor Aegidius, "du bist so leer wie die Schnapsflasche eines Alkis."
"Diese Geschichte droht eklatant in billigen Klamauk abzudriften!", ruft nun jemand aus dem Publikum, "dafür haben wir keinen Eintritt bezahlt. Wir wollen sprühenden Irrsinn, der aus Köpfen sprudelt!"
Der Regisseur, der in der hintersten Stuhlreihe gesessen hatte, erhob sich daraufhin zögernd und wedelte beschwichtigend mit den Händen.
"Aber meine Damen und Herren", rief er dem Publikum zu, das sich nun mehrheitlich abrupt zu ihm umdrehte. Auch die Unterhaltungen in der Warteschlange wurden unterbrochen, sogar das Geklapper der verschiedenen verschließbaren Behältnisse hörte für einen kurzen, aufmerksamen Moment auf.
"Ich kann Ihnen versichern, wir haben uns im Vorfeld schon die allergrößte Mühe gegeben, den schlimmsten Irren der ganzen Stadt aufzutreiben. Herr Krautner bestand sämtliche Begutachtungen mit Bestnote! Und am Script haben ein halbes dutzend Leute ein halbes Jahr lang..."
"Bestnote!", rief Herr Krautner dazwischen und wollte sich von seinem Stuhl erheben, doch der stämmige Pfleger drückte ihn wieder nach unten, "bester Irre der Stadt!"
Dr. Aegidius nickte unauffällig zwei weiteren Pflegern zu, die sich ganz hinten im Saal aufgehalten hatten. Nun sprangen sie den Regisseur von hinten an und hielten ihn auf seinem Stuhl fest. Der stämmige Pfleger auf dem Podest drehte Herrn Krautner den Hahn aus dem Kopf und verschloss die Öffnung mit einem dicken Korken. Herr Krautner sank in sich zusammen und begann hemmungslos zu schluchzen. "Bin voll! Bin voll voll!"
Bevor der Regisseur wusste wie ihm geschah, war der hölzerne Hahn an seiner linken Kopfseite angebracht. Zur Probe öffnete der stämmige Pfleger ihn ein wenig, woraufhin sich blauschimmernder Irrsinn auf den grauen Teppichboden ergoss.
"Ah...." erschallte es durch den ganzen Saal, "endlich!"
Sogleich formierte sich die Warteschlange neu, wodurch die Reihenfolge etwas durcheinandergeriet. Ärgerliches Murren war die Folge.


Freitag, 4. März 2011

Märzmoosung




Ich habe eine Joggingstrecke, die führt durch einen großen Wald. Auf der anderen Seite, auf freiem Feld, befindet sich eine kleine, grasbewachsene Anhöhe, zu der ein ausgefahrener Feldweg führt, vorbei an stoppeligen und umgebrochenen Äckern. Auf der Anhöhe steht ein Wasserpumphäuschen, das an drei Seiten und oben mit Erde angeschüttet und mit Gras und Moos bewachsen ist. Die ganze Szenerie erinnert frappierend an eine weibliche Brust mit einem bemoosten Nippel obenauf.
Vergangenen Dienstag war es wieder soweit. Das Wetter passte perfekt: wolkenloser Himmel, im Westen sank die Sonne ihrem Untergang entgegen, ein böiger, eiskalter Ostwind fegte über die Felder und pfiff durch die kahlen Bäume. Seltsamerweise war die Fernsicht trotz des Windes dunstig, unwirklich gedämpft und ergraut wartete die Welt.
Die Wegstrecke bis zur Anhöhe reicht normalerweise gerade aus, um mich auch bei unangenehm kalten Tagen ordentlich aufzuheizen. Doch als ich von zu Hause aufgebrochen war, pfiff der Wind frontal durch meine winddichte Joggingjacke und trieb mir die Tränen aus den Augenwinkeln. Ich war ziemlich sicher, dass ich bald würde umkehren müssen, ich hatte bei der Auswahl meiner Kleidung den Wind sträflich unterschätzt. Ich zog wie im Winter die Jackenärmel über meine Hände und lief etwas schneller, um den Puls zu erhöhen. Als ich endlich den Wald erreicht hatte und der Wind nachließ, spürte ich wie sich wohlige Wärme in mir ausbreitete. Auf der anderen Seite des Waldes, auf dem Wegstück zur Anhöhe, hatte ich Rückenwind, was ihn weit weniger beissend erscheinen ließ. Bald hatte ich die Anhöhe erreicht und lief über das kurze, braun-grau erfrorene Gras zu meinem Moosnippel hinauf. Seine südwestliche Seite war sonnenbeschienen. Ich legte meine Hand auf das grüne Moos mit den vereinzelten, kurzen Grasstummeln dazwischen. Es fühlte sich warm an. Ich legte mich auf den Rücken und streckte alle Viere von mir. Wegen des Gefälles schien mir auch im Liegen die untergehende Sonne noch wärmend ins Gesicht. Über mir breitete sich die kahle Baumkrone des Bergahorns aus. Und immer noch pfiff und toste der eisige Nordost, brachte die unbelaubten Äste zum tanzen. Doch ich lag windgeschützt und warm.
Ich spreizte die Finger meiner Hände und fühlte das warme Moos. Ich spürte auch winzig kleine Zweigfragmente des Bergahorns. Ich krümmte meine Finger und ließ sie in das Moos eindringen um zu erkunden, wie tief diese trockene Wärme in den Boden hinunterreichte. Ich musste etwas krabbeln, um mir Zugang zu verschaffen, doch schließlich, als meine Finger bis zum zweiten Knöchel eingedrungen waren, wurde es erst feucht und dann kühl.
Über mir jaulte der Eiswind im kahlen Geäst, ich lag auf dem warmen Moos, die Abendsonne schien mir ins Gesicht, und meine Finger spürten die wartende Kraft des Frühlings in der Erde.
Warum jemals weiterlaufen?
Natürlich, es war nicht von Dauer. Es würde nicht von Dauer sein. Die Kälte würde obsiegen, früher oder später. Würde durch das Moos kriechen und mich frösteln lassen. Der Zauber war kurz und kostbar, ich zog meine Finger aus der Erde hervor und nahm den Zauber und lief so schnell ich konnte.