Samstag, 5. März 2011

In der Anstalt



"O´zapft is!", rief der stämmige Mann in seiner weissen Pflegerkluft endlich. Mit drei geübten Schlägen hatte er den hölzernen Hahn seitlich über dem linken Ohr in den Kopf des Irren getrieben. Der gar nicht so unglücklich scheinende Irre war Herr Krautner, er wohnte seit nun schon 18 Jahren in der Einrichtung Kuschelrose, genaugenommen seit er an einem sonnigen Aprilmorgen mit zwei schweren Überseekoffern beim Pförtner vorgesprochen hatte mit der Frage, ob er für eine Weile seinen Vorgesetzten und seine Sekretärin im Pförtnerhäuschen unterstellen dürfe.
Zum alljährlichen Irrenanstich hatte sich wie jedes Mal ein illustres Völkchen versammelt, bestehend aus ortsansässigen Kreativen wie dem Werbetafelgestalter Blümcke, der Floristik- und Ikebanameisterin Weber und dem Rathausdichter Gonschek. Sogar der überregional bekannte Schriftsteller Herr Schaumbeiss stand in der bis hinaus in den Eingangsbereich sich erstreckenden Menschenschlange. Wegen des ausufernden Auftritts des Kinderchores vom nahen St. Stephanius-Kindergarten war man zeitlich etwas in Verzug geraten, weshalb sich unter den Wartenden bereits erster Unmut zu regen begann. Zwar wurde noch kein offener Protest vorgebracht, doch verschiedene mokante Bemerkungen über die verbesserungswürdige Organisation wurden in der Schlange der Wartenden bereits ausgetauscht, und zwar etwas lauter als nötig, sodass die Honoratioren vorne auf dem Podest es hören mussten.
Jeder in der Reihe war mit einem mehr oder minder großen Gefäß ausgestattet. Es dominierten Plastikkanister und große Mehrwegwasserflaschen. Herr Schaumbeiss hingegen hatte sich mit zwei leeren Senfeimern ausgerüstet, beide natürlich mit verschließbaren Deckeln, damit auf dem Heimweg nichts überschwappen konnte. Schaumbeiss beglückwünschte sich immer wieder aufs Neue für seine Voraussicht, mit der er sich beim letzten Schützenfest die beiden leeren Eimer gesichert hatte. Bei einem Eimer brauchte man keinen Trichter zum Befüllen, was die Verweildauer oben auf dem überfüllten und rempeligen Podest enorm verkürzte. Er was sich sicher, dass nächstes Jahr jeder andere auch mit Eimern ankommen würde.
Plötzlich war unzufriedenes Geraune zu hören, es kam von vorne, von dem Podest. Schaumbeiss reckte und streckte sich, um nach dem Grund zu spähen.
"Er ist leer!", rief der stämmige Pfleger ungläubig mehr zu sich selbst denn als Information für die Wartenden. Dr. Aegidius, der medizinische Anstaltsdirektor, trat von der Seite herzu und drehte an dem hölzernen Hahn, wobei sich Herr Krautners Kopf leicht mitbewegte. Doch ausser knatternder und pfutziger Luft trat nichts aus. Nicht der kleinste Tropfen.
Herr Krautner schaute erst zu Doktor Aegidius auf, dann zu dem stämmigen Pfleger und wieder zurück. Unsicher, ja fast schon schuldbewusst fragte er:
"Wann kommt´s? Bin voll"
"Da kommt gar nix", grummelte Doktor Aegidius, "du bist so leer wie die Schnapsflasche eines Alkis."
"Diese Geschichte droht eklatant in billigen Klamauk abzudriften!", ruft nun jemand aus dem Publikum, "dafür haben wir keinen Eintritt bezahlt. Wir wollen sprühenden Irrsinn, der aus Köpfen sprudelt!"
Der Regisseur, der in der hintersten Stuhlreihe gesessen hatte, erhob sich daraufhin zögernd und wedelte beschwichtigend mit den Händen.
"Aber meine Damen und Herren", rief er dem Publikum zu, das sich nun mehrheitlich abrupt zu ihm umdrehte. Auch die Unterhaltungen in der Warteschlange wurden unterbrochen, sogar das Geklapper der verschiedenen verschließbaren Behältnisse hörte für einen kurzen, aufmerksamen Moment auf.
"Ich kann Ihnen versichern, wir haben uns im Vorfeld schon die allergrößte Mühe gegeben, den schlimmsten Irren der ganzen Stadt aufzutreiben. Herr Krautner bestand sämtliche Begutachtungen mit Bestnote! Und am Script haben ein halbes dutzend Leute ein halbes Jahr lang..."
"Bestnote!", rief Herr Krautner dazwischen und wollte sich von seinem Stuhl erheben, doch der stämmige Pfleger drückte ihn wieder nach unten, "bester Irre der Stadt!"
Dr. Aegidius nickte unauffällig zwei weiteren Pflegern zu, die sich ganz hinten im Saal aufgehalten hatten. Nun sprangen sie den Regisseur von hinten an und hielten ihn auf seinem Stuhl fest. Der stämmige Pfleger auf dem Podest drehte Herrn Krautner den Hahn aus dem Kopf und verschloss die Öffnung mit einem dicken Korken. Herr Krautner sank in sich zusammen und begann hemmungslos zu schluchzen. "Bin voll! Bin voll voll!"
Bevor der Regisseur wusste wie ihm geschah, war der hölzerne Hahn an seiner linken Kopfseite angebracht. Zur Probe öffnete der stämmige Pfleger ihn ein wenig, woraufhin sich blauschimmernder Irrsinn auf den grauen Teppichboden ergoss.
"Ah...." erschallte es durch den ganzen Saal, "endlich!"
Sogleich formierte sich die Warteschlange neu, wodurch die Reihenfolge etwas durcheinandergeriet. Ärgerliches Murren war die Folge.


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