Mittwoch, 13. April 2011

Mitternächtlicher Besuch




Ich schaute auf die Uhr. Sie bemerkte meinen Blick.

"Kommt noch was im Fernsehen? Oder hast du noch etwas vor", fragte sie.

"Wie man´s nimmt. Ich habe noch ein Rendezvous"

"So spät noch? Ist doch bald Mitternacht"

"Ha ja, aber ich muss nicht wegfahren, es findet hinterm Haus statt"

"Du hättest mir sagen können, dass noch Besuch kommt. Hier sieht es doch aus wie Sau"

"Keine Sorge, der Besuch kommt nicht rein. D.h...wie man´s nimmt. Irgendwie kommt er doch rein. Das wird sich nicht vermeiden lassen"

"Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen und sag schon, wer es ist!"

"Es ist kein `wer´, sondern ein `was´."

"Herrgott nochmal..."

"Es ist ein Photon. Ein Photon vom Saturn. Es wurde vor fast 40 Minuten von einem Elektron emittiert, als es von einer hohen auf eine niedere Orbitalschale eines Schwefelatoms in der äusseren Saturnatmosphäre geplumpst ist. Seitdem rast es mit Lichtgeschwindigkeit Richtung Erde." Ich schaute nochmals auf die Uhr. "Im Moment passiert es gerade die Jupiterbahn. Wenn es nach vorne in Flugrichtung guckt, kann es die Erde sehen, als gleissend-bläulichen Lichtpunkt in der Schwärze des Universums."

"Ach, ist das romantisch. Ich werde immer ganz rollig, wenn du solche Sachen sagst. Haben wir noch Zeit für einen Quickie, ehe dein Photon hier eintrudelt?"

"Hm...", ich schaute nochmals auf meine Armbanduhr. Das Photon musste inzwischen an den ersten Brocken des Asteroidengürtels vorbeigekommen sein.

"Klar"

Nach der kurzen, schwitzigen Angelegenheit nahm ich meine abgelegte Uhr wieder vom Beistelltisch und kontrollierte den Zeitablauf. Das Photon war inzwischen schon innerhalb der Marsbahn, die Erde schon eine deutlich wahrnehmbare, blaue Sichel.

"Worüber so ein Photon wohl nachdenkt, wenn es so alleine durchs All fliegt?", fragte sie. Ich betrachtete ihren verschwitzten Körper.

"Nun, genaugenommen hat es gar keine Zeit, etwas zu denken. Da es mit Lichtgeschwindigkeit fliegt, steht die Zeit für das Photon still. Die Zeit vergeht nicht, wenn man mit c reist. Man bricht auf, und in demselben Moment ist man auch schon angekommen. Selbst wenn man das gesamte Universum durchquert hat."

"Aber was ist mit der kosmischen Hintergrundstrahlung? Dem Überbleibsel vom Urknall? Diese Photonen fliegen doch schon über 13 Milliarden Jahre durchs All"

"Spielt keine Rolle. Für das Photon vom Urknall ist keinerlei Zeit vergangen, wenn es auf einen Detektor hier auf der Erde trifft und von einem Physiker analysiert wird. Für uns war es 13 Milliarden Jahre unterwegs, für das Photon selbst ist keine Zeit vergangen."

"Komm, verarsch mich nicht"

"Doch doch, das ist Fakt. Einsteins Relativitätstheorie besagt nichts anderes! Wir bewegen uns alle mit Lichtgeschwindigkeit durch die Raumzeit. Unser Weg hat dabei zwei Geschwindigkeitskomponenten. Eine in Richtung des Raums, die andere in Richtung der Zeit. Je kleiner unsere Geschwindigkeit durch den Raum ist, desto schneller bewegen wir uns durch die Zeit. Andererseits bewegen wir uns immer langsamer durch die Zeit, je schneller wir uns durch den Raum bewegen. Stehen wir still, bewegen wir uns mit Maximalgeschwindigkeit durch die Zeit. Bewegen wir uns mit Lichtgeschwindigkeit durch den Raum, wie etwa ein Photon...." (bei dem Wort Photon schaute ich nochmals auf die Uhr) "... ist unsere Bewegung durch die Zeit null!"

"Das hört sich ziemlich irre an. Und sehr anregend. Wir können das ja nachher noch etwas vertiefen..."

"Nichts lieber als das. Aber jetzt muss ich los"

Ich trat durch die Hintertür ins Freie. Die Nacht war kalt und sternenklar. Bald würde ich frösteln. Mein Photon war nun schon ganz nah. Es passierte den Mond in weniger als einem Augenblick. Ich hob meinen Kopf, es drang in mein Auge, ich sah Saturn hoch im Süden. In meinem Sehnerv gab es einen winzigen Energiesprung, als das Photon auf meine Netzhaut traf. Ich atmete tief ein. In meiner Nase ein Duft nach Liebe und Wärme.