Mittwoch, 17. August 2011

Das Leben eines Regenwurms



Auch wenn man ein vierzehn Jahre altes Auto fährt ist man doch einigermaßen angefressen, wenn es dann doch mal eine Panne hat. Obwohl man ja eigentlich damit rechnen muss. Irgendwann ist es immer soweit. Ärgerlich und zum Haare raufen wird es aber erst, wenn man feststellen muss, dass der Fehler sich bei korrekter und gewissenhafter Wartung hätte vermeiden lassen. Glück im Unglück ist es hingegen, wenn die Panne in der Nähe der Heimatbastion passiert und man das gute alte Stück zu vertretbaren Kosten zu sich nach Hause holen lassen kann und man mit etwas Hilfe die Sache vermutlich selber wird reparieren können.
Wie dem auch sei, zur Zeit ist also das Fahrrad mein Hauptverkehrs- und Transportmittel. Ich muss meinem Kaff zugute halten, dass es mit zwei Lebensmittelläden, einer Bäckerei, einer Metzgerei, einer Apotheke und einem Schlecker recht gut aufgestellt ist. Die nächste öffentliche Bibliothek ist allerdings in der nächsten Stadt, und die ist nicht nur 6 Kilometer entfernt, sondern liegt auch 100 Meter tiefer; was den Rückweg nach Hause nicht gerade zu einer Spazierfahrt macht. Trotzdem schaffe ich ihn mittlerweile in knappen 20 Minuten.
Gestern war so ein Bibliotheksausflug, ich saß in der Zeitschriftenabteilung und las das neue Cinema, ein Magazin für Film- und Kinofreunde. Darin wurde ein Film besprochen, dessen Thema, oder besser, dessen Intention, mich sofort gefangen nahm. Er wurde nach dem Roman eines zeitgenössischen italienischen Autors gedreht. Ich schaute auf die Uhr und verließ die Bibliothek. Zum Buchladen war es nicht weit, ich schloss trotzdem mein Fahrrad auf und fuhr die kurze Strecke. Doch das Geschäft hatte bereits um halb sieben zugemacht. Ich radelte die sechs Kilometer und 100 Höhenmeter (netto) nach Hause.
Am nächsten Morgen, d.h. heute, rief ich im Buchladen an und fragte, ob das Buch vorrätig sei. Ja, sie würden es mir zurücklegen. Am späteren Nachmittag schwang ich mich wieder auf mein Fahrrad und fuhr sechs Kilometer und 100 Höhenmeter zum Buchladen. An der Theke nannte ich den Titel des zurückgelegten Buches, woraufhin eine Verkäuferin fast wehmütig seufzte: "Ach, das möchte ich auch unbedingt noch lesen!"
Ich packte meine Beute ein und überlegte. Es war einer jener seltenen weil brütendheissen Sommertage, die Hitze stand in den Gassen. Ich musste unbedingt noch etwas trinken, ehe ich die sechs Kilometer und 100 Höhenmeter (netto) wieder in Angriff nahm.
Nicht weit von der Buchhandlung entfernt befindet sich ein Café mit Aussenbewirtung unter großen alten Kastanienbäumen. Ich setzte mich an einen freien Tisch, bestellte mir ein großes Radler, holte mein Buch aus dem Rucksack und begann zu lesen.
Bald schob sich eine alte Frau mit ihrem Rollator zwischen den Tischen hindurch. Sie hielt auf einen älteren Herrn zu, der alleine an einem Tisch saß und fragte ihn wortreich, ob noch ein Platz frei wäre. Der ältere Herr mochte gut 70 Jahre alt sein, doch die Frau war bestimmt nochmal 20 Jahre älter. Sie trug ein bunt geblümtes Kleid. An ihrem Rollator war ein Gerät befestigt, von wo ein dünner durchsichtiger Sauerstoffschlauch zur Nase der Frau führte. Sie kam mir bekannt vor. Ich schaute genauer hin. Ja, ich kannte sie.
Frau Pluskat war eine Bewohnerin des Altenheimes gewesen, in dem auch mein Vater lag bis zu seinem Tod. Sie saß oft alleine in der Caféteria, so dass ich mich manchmal zu ihr setzte, wenn ich meinen Besuch bei meinem Vater beendet hatte. Sie klagte mir oft ihr Leid mit den Pflegekräften und war dann stets dem Weinen nahe. Allerdings war ich selbst mit dem Personal des Altenheimes und der Behandlung meines Vaters immer sehr zufrieden. Doch ich sah keinen Sinn darin, Frau Pluskat in eine Diskussion über moderne, d.h., an der Grenze menschlicher Physis entlangschrammende Pflege zu verwickeln. Ich hörte ihr zu und hielt auch manchmal ihre Hand.
Irgendwann war sie nicht mehr an ihrem Stammplatz und ich erkundigte mich nach ihrem Verbleib. Mir wurde der Name einer weit entfernten Stadt genannt, den ich aber wieder vergaß. Dorthin sei sie umgezogen.
Ich war also etwas überrascht, als ich Frau Pluskat heute in dem Café erkannte. Nachdem ich mein Radler ausgetrunken und bezahlt hatte, ging ich zu ihr hinüber und setzt mich zu ihr an den Tisch. Sie erkannte mich gleich wieder. Wie sich herausstellte, war sie lediglich in ein anderes Altersheim einen Kilometer weiter umgezogen, doch dort gefiel es ihr auch nicht. Nach zehn Minuten verabschiedete ich mich, ging zu meinem Fahrrad, schloss es auf und radelte nach Hause.
Etwa zwei Kilometer vor meiner Haustür bemerkte ich vor mir auf dem Radweg, etwas links von der Mitte, eine kleine braune Eidechse. Es wäre alles gut gegangen, wenn sie ruhig sitzengeblieben wäre. Aber etwa einen Meter vor mir spurtete sie plötzlich los und rannte mir unter das Fahrrad. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich sie erwischt hatte. Im selben Augenblick vernahm ich ein deutliches, rhythmisches Zischen. Ich befand mich neben einer Sägerei und dachte, vermutlich entlüftet ein LKW seine Bremsen. Aber nach etwa 20 Metern war klar, dass das Zischen aus dem Hinterreifen meines Fahrrades kam. Ich hatte einen Platten. Die Sonne brannte herunter und ich war ziemlich enttäuscht vom Weltgeist. Ich sparte mir den Weg zurück zu der Eidechse angesichts der zwei Kilometer Fußmarsch, die noch vor mir lagen. Nach etwa einem Kilometer ringelte sich vor mir auf dem Gehweg ein Regenwurm in geradezu ekstatischen Zuckungen. In der Hitze hätte er keine zehn Minuten mehr durchgehalten. Ich hob ihn auf und trug ihn zu einem sehr grünen, sehr dichten und feuchten Gebüsch.
Auf dem weiteren Heimweg rekapitulierte ich die ganze Geschichte. Die Autopanne vor zwei Wochen, weswegen ich überhaupt mit dem Fahrrad in die Stadt fuhr. Mein Blick in das Kinomagazin, die Entdeckung des Films und des Romans, der geschlossene Buchladen, weswegen ich am nächsten Tag nochmals hinfuhr. Mein Durst, das Radler und Frau Pluskat sorgten für die nötige Verzögerung und das genaue Timing. Die Eidechse und das gleichzeitige zischende Entweichen der Luft aus dem Reifen. Dann, zehn Minuten später, der Regenwurm, den ich vor dem Austrocknen rettete.

Manchmal sind die Dinge einfach nur so kompliziert wie unbedingt nötig.