Sonntag, 14. August 2011

Draußen an der Bar


An spärlich beleuchteten Bartresen nachts um halb zwei erlebt man die seltsamsten Geschichten. Man geht in die Bar, stellt sich an den Tresen und bestellt ein Getränk, das möglichst kein Bier und kein Mineralwasser sein sollte. Sodann dreht sich eine blendend doch traurig aussehende Frau zu einem um und fragt nach Feuer oder ob man sie mal kurz oben zwischen den Schulterblättern massieren würde, sie habe da so eine tiefsitzende nervige Verspannung seit sie ihren langjährigen Freund letzte nacht vor die Tür setzte. Man geht dann mit ihr raus vor die Türe zum Rauchen obwohl man vor zwanzig Jahren zum letzten Mal eine Zigarette zwischen den Lippen hatte. Und während man so dasteht und über die Relativitätstheorie plaudert dreht sie sich in ihrem rückenfreien Cocktailkleid um und weist mit ihrer freien Hand auf eine bezaubernde Stelle zwischen Wirbelsäule und linkem Schulterblatt.


"Da ist es besonders schlimm. Muss wohl eine Verspannung sein. Könnten Sie vielleicht...?"

Hier auf dem Lande gibt es natürlich keine Bars, die bis um halb zwei in der Nacht geöffnet haben, geschweige denn blendend aber traurig aussehende Frauen, die in rückenfreien Cocktailkleidern am Tresen sitzen und massiert werden wollen. Allerdings ist es schon nach Mitternacht. Die Zeit zumindest verläuft hier großstädtisch. Am Bach unten steht eine große Pappel mit einem mörderdicken Stamm. Den könnte ich mir als Bartresen vorstellen, wenn ich ihn mir in Gedanken in die Horizontale drehe und virtuell gleich noch ein wenig poliere. Ich stapfe den Hang hinunter, in der Dunkelheit kann ich die Brennnesseln nicht erkennen und verbrenne mir Hände und Knöchel. Lässig lehne ich mich an den alten Baum und denke mir ein Cocktailglas dazu. Oben raschelt leise das Laub im Nachtwind, aber ich bilde mir einfach ein, es wären die monotonen Rhythmen eines angesagten House-DJs. Ich wippe sogar etwas mit meinem linken Fuß. Eine blendend aussehende aber traurige Frau ist leider noch nicht zu sehen. Ich tätschle etwas den Stamm und blicke mich souverän um, doch es ist niemand da, der getröstet oder massiert werden möchte.
Im Mondlicht bewegt sich ein kleiner Schatten über die Rinde. Ich nehme mein Handy und beleuchte die Stelle mit dem Display. Es ist eine Baumwanze, die von hoch oben heruntergekrabbelt kommt. Sie sieht mich und schaut erschrocken drein.

"Hey, keine Sorge, ich habe es auf blendend gut aussehende trübsinnige Frauen abgesehen, nicht auf harmlose Baumwanzen", sage ich.

"Da bin ich aber beruhigt", sagt die Baumwanze und hält erst einmal inne. Sie scheint gar nicht unfroh darüber zu sein, ihren Abstieg den Baumstamm hinunter unterbrechen zu können. Ich bewundere ihren imposanten Rücken- und Schulterpanzer. Er sieht genau so aus wie damals bei Biene Maya. Was mich auf einen Gedanken bringt.

"Sag mal", sage ich zu ihr und versuche, ziemlich lässig dreinzublicken, "fangt ihr wirklich immer an zu stinken, wenn ihr euch ärgert?"

Kaum hatte ich das letzte Wort ausgesprochen, ging das Display meines Handys aus und nur der silbrige Schein des Mondes erleuchtete noch matt den massigen Baumstamm mit dem kleinen dunklen Knubbel darauf.

"Ja, natürlich", antwortete die Baumwanze, "das ist ein völlig natürlicher und keinesfalls ehrenrühriger Vorgang. Er dient dazu, unser Leben zu verlängern, wenn du verstehst, was ich meine".

"A propos Leben", sagte ich, "seid ihr Baumwanzen nicht tagaktive Tiere? Was krabbelst du jetzt mitten in der Nacht auf diesem Pappelstamm herum?"

Die Baumwanze tat so, als hätte sie die Frage nicht gehört. Sie musterte interessiert die nächste Wegstrecke, die noch vor bzw. unter ihr lag. Die Rinde war sehr dick und furchig. Für so ein kleines Wesen musste der Weg den Stamm hinunter äusserst mühsam sein.

"Warum benutzt du nicht deine Flügel? Ihr könnt doch fliegen, wenn ihr wollt", versuchte ich es mit einer anderen Frage. Doch auch sie wurde von der Baumwanze überhört. Ob absichtlich oder aus schierer Gedankenlosigkeit vermochte ich nicht zu sagen. Ein wenig angenervt war ich allerdings schon von so viel Unhöflichkeit oder Unaufmerksamkeit. Während ich überlegte, ob ich mir dieses Verhalten bieten lassen sollte, schaute ich mich interessiert um und wippte mit dem Fuß. Natürlich sah ich nichts. Es war stockfinster. Das silbrige Mondlicht schaffte es gerade noch so auf den Pappelstamm, aber nicht mehr bis in das Gebüsch um den Stamm herum. Na ja, dachte ich mir, in den Bars ist es ja auch immer ziemlich duster.

"Wieso trübsinnig?", fragte die Baumwanze unvermittelt.

"Was?"

"Wieso bist du auf der Suche nach einer trübsinnigen Frau?"

"Achso, nein, das sagte ich doch nur so. Ich meinte eigentlich eher melancholisch. In diesen Filmen, wenn nachts ein Mann einen trinken geht, dann sitzt da meistens eine Frau an der Bar, die nicht sehr glücklich dreinschaut und dann von dem Mann getröstet wird."

"Aha", sagte die Baumwanze, "und sind wir hier in einer Bar?"

Ich schaute mich unwillkürlich um. Nein, es war natürlich keine Bar. Ich lehnte mitten in der Nacht in vermutlich zeckenverseuchtem Gestrüpp an einem Baum und wartete auf eine melancholische Frau die sich von mir trösten ließ. Aber diesmal war ich es, der eine Frage einfach überhörte. Doch die Wanze schien das nicht zu stören. Vermutlich war die Frage sowieso nur rhetorisch gemeint gewesen.
Die Wanze spreizte nun ihre Deckflügel und fing an zu pumpen. Es schien ein recht anstrengender Vorgang zu sein denn sie bekam einen ziemlich starren Blick dabei. Ich bemerkte das, weil zufällig ein dünner Mondlichtstrahl genau auf ihre Augen fiel und glitzerte und funkelte. Dann stieß sie sich ab, fiel erst ein paar Zentimeter nach unten und gewann dann stetig und wie ein Tiefflieger brummend an Höhe. Sie benutzte das schräg durch das Dickicht einfallende Mondlicht als Leitstrahl und wurde schnell kleiner, während sie zum Mond flog.

Nein, es war natürlich keine Bar. Und eine schöne Frau die getröstet werden wollte kam in jener Nacht auch nicht in das Gestrüpp.


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