..............................................und andere Lumineszenzen..............................................
Mittwoch, 21. Dezember 2011
Na sowas (III)
Die Frau saß nun auf der mir zugewandten Seite des Liegestuhls wie auf einem niedrigen Hocker, die Füße auf dem Glasboden und die Beine geschlossen. Ihre Arme hatte sie vor der Brust verschränkt. Meine Jacke stand ihr gut. Wir sahen uns wortlos an. Ich hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen, doch mir fiel nichts der Situation angemessenes ein. Ihr schien es ähnlich zu ergehen. Ich überlegte eine kleine Frage. Etwa "Wissen Sie vielleicht, wo wir hier sind?". Doch stattdessen imitierte ich lieber einen tobenden Schimpansen und tanzte dreimal schreiend und grunzend um den Liegestuhl, wobei ich wild mit den Armen wedelte und immer wieder meine Hände über den Boden schleifen ließ. Als ich atemlos und genauso schlau wie zuvor der Frau wieder gegenüberstand fragte sie aufrichtig interessiert:
"Fühlen Sie sich jetzt besser?"
Ich horchte einen kleinen Augenblick in mich hinein und konnte die Frage dann aufrichtig bejahen:
"Ja, ich fühle mich tatsächlich etwas besser jetzt. Das musste mal raus"
"Ich heiße übrigens Gwendoline, aber bitte nennen Sie mich Karla", sagte die Frau, die meine Jacke trug, und sah mich fragend an.
"Ich heiße Moves, aber wenn Sie wollen, können Sie mich auch Rainer nennen. Oder Malte."
"Ich kannte einmal einen Malte, seitdem ist mir dieser Name verleidet", meinte sie.
"Und ich kannte mal eine Karla. Ist lange her."
Ich überlegte, ob es sich ziemen würde, wenn ich mich neben sie auf den Liegestuhl setzen würde. Ich überlegte auch, ob sich überhaupt die Frage geziemen würde, ob ich mich neben sie setzen dürfe. Sie wandte den Blick von mir ab und ließ ihn über die Wölbung der Glaskugel schweifen.
"Schon seltsam hier, finden Sie nicht auch, Rainer?"
Nun schaute auch ich mich nochmals um. Ja, seltsam war wohl ein treffender Ausdruck für unsere Situation. Der blaue Himmel war erkennbar dunkler geworden und die Abendrotwolken waren mittlerweile eher grau als rot. Sie waren aber immer noch sehr hilfreich bei der Bestimmung des Sonnenuntergangpunktes. Ich streckte meinen Arm aus und maß von dort, wo die Wolken noch am hellsten glühten, eine Faust breit nach links ab, und dann eine Faust breit nach oben. Tatsächlich, obwohl es längst noch nicht Nacht geworden war, leuchtete bereits Venus deutlich erkennbar genau neben einer grauen Wolkenschwade.
"Was tun Sie da?", fragte mich Karla.
"Venus beginnt dieser Tage ihre Abendsichtbarkeitsperiode. Jedenfalls tat sie das gestern noch, als ich von meinem Balkon nach Südwesten schaute. Wenn der Stern dort Venus ist, dann befinden wir uns zumindest noch auf der Erde"
"Natürlich befinden wir uns noch auf der Erde", sagte Karla verwundert. "Was dachten Sie denn?"
"Na ja", versuchte ich mich zu rechtfertigen, "diese Riesenmurmel, auf der wir hier stehen, oder sitzen, hat schätzungsweise einen Durchmesser von zehn Kilometern. Wenn sie auf der Erde liegt...und sich möglicherweise einen Kilometer tief eingedrückt hat, würde das bedeuten, dass wir uns immerhin in neun Kilometern Höhe befinden. Das wäre noch höher als der Everest. Dafür ist es hier aber relativ mild, finden Sie nicht?"
"Das ist doch keine Riesenmurmel", sagte Karla mit einem Lächeln, "das ist ein gefrorener Atompilz!"
"Aha", sagte ich zweifelnd, "ein Atompilz? Gefroren? Wie kommen Sie denn da drauf?
"Also nicht gefroren wie Eis, es ist kein Phänomen fehlender Wärme, also Energie. Der Atompilz ist in der Zeit gefroren. Er ist von einem hauchdünnen Firniß stillstehender Zeit umgeben."
Ich schaute mich nochmals um. Tief unter meinen Füßen glühten und schimmerten die seltsam leuchtenden Filamente. "Aber das Licht von diesen Strukturen dort unten kommt durch? Durch die stillstehende Zeit hindurch?", fragte ich zweifelnd.
"Was Sie da sehen sind Reflexe des Zeithorizonts. Die haben nichts mit der darunterliegenden Realität zu tun"
"Und woher wissen Sie das eigentlich alles?", platzte ich nun doch einigermaßen neugierig heraus, "wie lange sind Sie eigentlich schon hier? Und, vor allem, wo sind ihre Klamotten?"
Sie schien sich sehr zu amüsieren über meine Fragen.
"Woher ich das alles weiß? Der alte Mann hat´s mir natürlich erzählt"
"Aha", sagte ich und setzte mich ungefragt zu ihr auf den Liegestuhl
Montag, 19. Dezember 2011
Na sowas (II)
Während ich die kaum spürbare Steigung emporging schaute ich mir meinen Untergrund etwas genauer an. Das Glas schien bis auf einen kaum wahrnehmbaren rosenrosanen Schimmer ziemlich durchsichtig zu sein. Tief im Inneren waren seltsame Filamente zu erkennen wie Schlieren in einer Glasmurmel. Erhob ich den Blick und schaute in Richtung des Sonnenuntergangs spiegelte die kugelige Oberfläche das Licht des Abendrots ohne jede Verzerrung. Darüber war ich etwas erstaunt, denn ein solch großer Glaskörper war unmöglich abzukühlen ohne dass sich kleine Riefen und Rillen bildeten auf seiner Oberfläche.
Dumm, sagte ich mir. Wie dumm, in solch kleinlichen technischen Kategorien zu denken während ich auf einer zehn Kilometer dicken Glaskugel unter einem perfekten fast wolkenlosen Abendhimmel dahinschritt. Dumm.
Oben auf der höchsten Erhebung der Wölbung kam ein weißer Plastikliegestuhl in Sicht. Darauf schien eine Person zu liegen. Vor Verblüffung hielt ich in meinem Marsch inne und schaute eine Minute lang bewegungslos. Kein Zweifel.
Ich drehte mich langsam einmal um meine Achse, um mich zu vergewissern, dass ich sonst nichts anderes übersehen hatte. Bis auf den Liegestuhl etwa zweihundert Meter vor mir war die Oberfläche der Kugel nach wie vor vollkommen leer. Langsam setzte ich mich wieder in Bewegung.
Auf dem Liegestuhl lag eine nackte Frau mit Sonnenbrille und rötlich-braunen Haaren nur auf dem Kopf. Die Haare waren glatt und etwa schulterlang, die Brille kam mir bekannt vor, sie erinnerte mich an die Men in Black-Ray Ban, die ich vor Urzeiten geschenkt bekam von meiner Schwester. Seit einem Jahr etwa war die Brille aber verschwunden, entweder schlicht verlegt, verloren oder gestohlen. Weiche Schuhsohlen auf massivem Glas machen keinerlei Geräusche, die Frau schien zu schlafen und mein Näherkommen nicht zu bemerken. Als ich mich ihr fast auf Armlänge genähert hatte beugte ich mich etwas vor, um eventuell das Label auf der Brille erkennen zu können. Ray Bans tragen den Firmennamen alle in einer Ecke des Glases. Da war etwas...es sah aus wie ein Schriftzug...noch etwas näher...
Ihr ganzer Körper zuckte plötzlich wie unter einem Stromschlag und mit einer schnellen Bewegung schob sie sich die Brille auf die Stirn. Ich wunderte mich, dass sie nicht aufschrie vor Überraschung, doch merkte im selben Augenblick, dass ich offensichtlich zuviele mit hysterischen Frauenklischees überladene Filme gesehen hatte. Meine Augen folgten reflexhaft der Brille auf ihrem Weg über ihre Stirn bis zum Haaransatz, doch ich konnte das Firmenlogo nicht entziffern. Und noch längeres Starren auf ihre Sonnenbrille hielt ich für unhöflich. Also schaute ich ihr in die Augen. Sie waren grün wie Gras. Ihr Blick hatte sich vom ersten Erschrecken erholt und zeigte nun weder Furcht noch Erstaunen. Nur einen Hauch von Neugier schien sie sich zu erlauben. Gleichzeitig winkelte sie ein Bein an und kippte es dann über das andere. Während sie mit einer Hand ihre Brille an Ort und Stelle auf ihrem Kopf hielt, bedeckte sie mit ihrer anderen eine ihrer Brüste.
"Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken", sagte ich und trat einen Schritt zurück.
Sie sagte noch immer nichts, schaute mich aber von oben bis unten an. Auf meiner schwarzen Baumwolljacke blieb ihr Blick haften.
"Leihen Sie mir ihre Jacke?", fragte sie. Ihr Tonfall war dabei keineswegs bittend, tatsächlich war ich mir gar nicht mal sicher, ob sie überhaupt ihre Stimme erhoben hatte am Ende des Satzes. Doch angesichts ihrer Situation beschloss ich, erstmal keine erhöhten Höflichkeitsstandards anzulegen und zog sofort meine Jacke aus. Dabei spürte ich die harte Stelle in der Innentasche, hinter der sich mein Mobiltelefon verbarg. Ich nahm es heraus und überreichte meiner Begegnung die Jacke. Die Frau richtete sich in ihrem Liegestuhl auf und setzte ihre Füße auf den glasigen Untergrund. Dabei schwang sie ihre Beine nicht gleichzeitig über den Rand des Liegestuhls, sondern eins nach dem anderen. Ich bemühte mich, nicht hinzusehen. Stattdessen schob ich mein Handy auf und sah, dass es sehr guten Empfang hatte. Wie erwartet zeigte es weder entgangene Anrufe noch eingegangene SMS. Ich schob das Handy wieder zusammen und steckte es in die Hosentasche. Um irgendwen anzurufen war immer noch Zeit.
Dumm, sagte ich mir. Wie dumm, in solch kleinlichen technischen Kategorien zu denken während ich auf einer zehn Kilometer dicken Glaskugel unter einem perfekten fast wolkenlosen Abendhimmel dahinschritt. Dumm.
Oben auf der höchsten Erhebung der Wölbung kam ein weißer Plastikliegestuhl in Sicht. Darauf schien eine Person zu liegen. Vor Verblüffung hielt ich in meinem Marsch inne und schaute eine Minute lang bewegungslos. Kein Zweifel.
Ich drehte mich langsam einmal um meine Achse, um mich zu vergewissern, dass ich sonst nichts anderes übersehen hatte. Bis auf den Liegestuhl etwa zweihundert Meter vor mir war die Oberfläche der Kugel nach wie vor vollkommen leer. Langsam setzte ich mich wieder in Bewegung.
Auf dem Liegestuhl lag eine nackte Frau mit Sonnenbrille und rötlich-braunen Haaren nur auf dem Kopf. Die Haare waren glatt und etwa schulterlang, die Brille kam mir bekannt vor, sie erinnerte mich an die Men in Black-Ray Ban, die ich vor Urzeiten geschenkt bekam von meiner Schwester. Seit einem Jahr etwa war die Brille aber verschwunden, entweder schlicht verlegt, verloren oder gestohlen. Weiche Schuhsohlen auf massivem Glas machen keinerlei Geräusche, die Frau schien zu schlafen und mein Näherkommen nicht zu bemerken. Als ich mich ihr fast auf Armlänge genähert hatte beugte ich mich etwas vor, um eventuell das Label auf der Brille erkennen zu können. Ray Bans tragen den Firmennamen alle in einer Ecke des Glases. Da war etwas...es sah aus wie ein Schriftzug...noch etwas näher...
Ihr ganzer Körper zuckte plötzlich wie unter einem Stromschlag und mit einer schnellen Bewegung schob sie sich die Brille auf die Stirn. Ich wunderte mich, dass sie nicht aufschrie vor Überraschung, doch merkte im selben Augenblick, dass ich offensichtlich zuviele mit hysterischen Frauenklischees überladene Filme gesehen hatte. Meine Augen folgten reflexhaft der Brille auf ihrem Weg über ihre Stirn bis zum Haaransatz, doch ich konnte das Firmenlogo nicht entziffern. Und noch längeres Starren auf ihre Sonnenbrille hielt ich für unhöflich. Also schaute ich ihr in die Augen. Sie waren grün wie Gras. Ihr Blick hatte sich vom ersten Erschrecken erholt und zeigte nun weder Furcht noch Erstaunen. Nur einen Hauch von Neugier schien sie sich zu erlauben. Gleichzeitig winkelte sie ein Bein an und kippte es dann über das andere. Während sie mit einer Hand ihre Brille an Ort und Stelle auf ihrem Kopf hielt, bedeckte sie mit ihrer anderen eine ihrer Brüste.
"Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken", sagte ich und trat einen Schritt zurück.
Sie sagte noch immer nichts, schaute mich aber von oben bis unten an. Auf meiner schwarzen Baumwolljacke blieb ihr Blick haften.
"Leihen Sie mir ihre Jacke?", fragte sie. Ihr Tonfall war dabei keineswegs bittend, tatsächlich war ich mir gar nicht mal sicher, ob sie überhaupt ihre Stimme erhoben hatte am Ende des Satzes. Doch angesichts ihrer Situation beschloss ich, erstmal keine erhöhten Höflichkeitsstandards anzulegen und zog sofort meine Jacke aus. Dabei spürte ich die harte Stelle in der Innentasche, hinter der sich mein Mobiltelefon verbarg. Ich nahm es heraus und überreichte meiner Begegnung die Jacke. Die Frau richtete sich in ihrem Liegestuhl auf und setzte ihre Füße auf den glasigen Untergrund. Dabei schwang sie ihre Beine nicht gleichzeitig über den Rand des Liegestuhls, sondern eins nach dem anderen. Ich bemühte mich, nicht hinzusehen. Stattdessen schob ich mein Handy auf und sah, dass es sehr guten Empfang hatte. Wie erwartet zeigte es weder entgangene Anrufe noch eingegangene SMS. Ich schob das Handy wieder zusammen und steckte es in die Hosentasche. Um irgendwen anzurufen war immer noch Zeit.
Dienstag, 13. Dezember 2011
Na sowas (I)
Der Horizont war weit und nah.
Weit war der blaue Abendhimmel, unendlich weit hinter seiner vom Tage müden Bläue. Vereinzelte, feinfadige Cirruswolken in allen Feuerfarben mühten sich, der untergegangenen Sonne auf den Fersen zu bleiben, doch vergeblich. Müde verloren auch sie langsam ihre Glutröte. Seltsamerweise schienen sie darob keineswegs traurig zu sein. Ich schaute auf meine Hände. Sie waren in rotes Licht getaucht.
Nah hingegen schien das Ende der Welt zu sein, auf der zu stehen möglich war. Nah und erst flach, dann immer steiler abfallend.
Ich befand mich nicht weit von der höchsten Erhebung einer sphärisch gewölbten Fläche. Als ob ich auf einem riesigen Gasballon stehen würde, der irgendwo zwischen Himmel und Erde schwebte. Doch worauf ich stand war kein imprägniertes Textilgewebe. Die Oberfläche war glatt wie poliertes Glas und ebenso unnachgiebig. Ich stampfte vorsichtig mit dem Fuß auf, es war mehr ein Tippen mit der Schuhspitze, doch die glasige Oberfläche zeigte keinerlei Reaktion, kein Vibrieren, kein Dröhnen, gerade so als wäre sie durch und durch massiv.
Das war nicht vorherzusehen, als ich den großen Felsbrocken auf den armen Irren fallen ließ.
Überhaupt geschehen seltsame Dinge in letzter Zeit.
Ich hatte diesen Felsen emporgehoben, weil ich mir plötzlich gewiss war, es tun zu können. Er war sehr groß und lang, wie ein Auto fast, und die nasse Erde wollte ihn nicht hergeben, hing ihm saugend nach. Doch mit einem grässlichen reissenden Geräusch riss ich ihn empor und hielt ihn erstmal hoch über meinen Kopf. Aber noch ehe ich mir Gedanken machen konnte, was ich nun mit dem Felsen anfangen sollte, sah ich den Irren in der tiefen braunen Kuhle hocken, in der eben noch der Felsen steckte. Verblüfft schaute ich nach oben. In dem Felsen gab es keinerlei Höhlung, die es dem Irren ermöglicht hätte, unter dem Felsen zu existieren ohne zerquetscht zu werden. Und auch die Erdkuhle war vollkommen der Form des Felsens angepasst, es gab keinerlei Vertiefung in der Vertiefung. Der Irre war ein Irrer, weil er eine schneeweiße und gestärkte Zwangsjacke trug und Grunzlaute von solcher Unmenschlichkeit ausstieß, dass mir eiskalte Schauer über den Rücken jagten. Ausserdem war er gerade dabei, eine Hand durch einen kleinen Riss im Zwangsjackenstoff zu bohren. Seine Finger waren schon zu sehen, sie wanden sich wie dicke weiße Raupen, denen böse Kinder die Köpfe abgezwickt hatten. Mit all dem hatte ich nicht gerechnet. Ich schaute mich um, wobei ich mich mit dem Felsen etwas drehen musste, damit durch meine erhobenen Arme kein toter Winkel entstand. Keine andere Menschenseele war in der Nähe. Das war gut.
Der Irre versuchte jetzt, sich auf seinen Knien aus dem tiefen Felsabdruck herauszuarbeiten, wobei er mitunter sein Kinn zu Hilfe nahm, um sich am Rand des Loches hochzuziehen. Es war eine irgendwie unbefriedigende Wendung der Geschehnisse. Erst freut man sich über seine Kräfte und spielt ein wenig Superman, und dann sowas.
Ich ließ den Felsen wieder in das Loch plumpsen. Natürlich passte er nicht mehr perfekt hinein und lag etwas verdreht, doch die Spalte waren schmal genug, dass von dem Irren nichts mehr zu sehen und zu hören war. Ich klatschte mir den Dreck von den Händen und stand auf massivem Glas.
Ich schaute mich um. Ich schätzte den Durchmesser der Glaskugel, auf der ich stand, auf ungefähr zehn Kilometer. Wenn ich dem Gefälle folgte, so konnte ich mindestens noch ein oder zwei Kilometer gehen, ehe es infolge der zunehmenden abfallenden Wölbung wirklich unangenehm werden würde. Doch schon jetzt erzeugte der Gedanke, einmal ins Rutschen zu kommen und dann ins Bodenlose zu fallen einen eigenartigen Druck im Oberbauch. Es gab kein Geländer, jedenfalls nicht in Sichtweite, und die blankpolierte Oberfläche versprach keinerlei Halt. Obwohl die Schräge an meinem Standpunkt noch nicht besorgniserregend war, beschloss ich trotzdem, mich erst einmal in Richtung des höchsten Punktes dieser Sphäre zu begeben. Ein paar hundert Meter Fußmarsch, mehr nicht, schätzte ich.
(wird fortgesetzt)
Montag, 5. Dezember 2011
Kommt ein Samoa-Palolo in die Bar...
(Für alle, die diesen Blog aus unerfindlichen Gründen vielleicht nur unregelmäßig verfolgen: Samoa-Palolo, siehe Fortpflanzung)
Samstag, 3. Dezember 2011
Liebeslied
Am Himmel Schmerzgewitter von West nach Ost wandernd. Ich ziehe den Kopf ein und schlage den Kragen hoch. Über welchem Landstrich sie wohl niedergehen werden? Fasziniert beobachte ich das grün-rote Farbspiel, das aus dem Inneren der Gewitterzelle nach aussen dringt und einen unwirklichen Farbton über die Stadt legt. Aus der Wolke scheint auch eine schöne Tenorstimme zu erschallen, doch ich kann keine Worte, noch nicht einmal eine Sprache erkennen. Die Melodie ist monoton und einschläfernd, plötzlich fühle ich den harten Asphalt unter meinen Knien. Verwundert stehe ich wieder auf und klopfe mir den Dreck von der Hose.
Mitten auf der Straße, völlig unbesorgt wegen des dichten Verkehrs, geht ein alter Mann. Er trägt einen grauen Schützenhut, einen grauen Schal und einen grauen Mantel. Darunter kann ich graue Hosen und - hoppla- blaue Adiletten erkennen, die auf nackten, bleichen Füßen stecken. Vor seiner Brust hält er eine lange Stange, die ein großes weißes Pappschild trägt. Auf dem Schild steht in perfekten Verdana-Lettern:
DIE TOTEN DÜRFEN NICHT ABSTIMMEN DAS MACHT SIE TRAURIG
Sein Blick ist starr geradeaus auf die nasse Straße gerichtet. Die Vorbeifahrt eines großen Lastwagens erzeugt eine so starke Windböe, dass dem alten Mann fast das Schild aus den Händen gerissen wird. Wütend blickt er nach oben, ob noch alles an seinem Platz ist. Es scheint ein sehr stabiles Pappschild zu sein. Dann fällt sein Blick auf mich. Mit immer noch, oder schon wieder wutverzerrtem Gesicht brüllt er in meine Richtung:
"Es wird Ihnen nicht gelingen, mich zu verwirren!"
"Was?" rufe ich in einem ersten Reflex zurück und denke sofort an Pulp Fiction. Doch dem Alten steht offenbar nicht der Sinn nach einer Filmzitateschlacht, er stapft unbeirrt weiter die Straße entlang, den Blick wieder starr vor sich auf den Asphalt gerichtet. Trotz des Verkehrslärms kann ich hören, wie seine nackten Füße in den Badelatschen quietschen vor Nässe. Ich schaue nach oben - tatsächlich, es regnet. Und nun bemerke ich auch, dass die Autos und vor allem die Lastwagen große Gischtfahnen hinter sich herziehen. Die Tenorstimme aus der Schmerzgewitterwolke ist merklich leiser geworden, sie singt nun im Nachbarviertel die Menschen auf die Knie. Auch ich beginne nun ein Lied zu singen, so laut ich kann, um den Verkehrslärm zu übertönen. Trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob der alten Mann mich noch hören kann. Ich singe über die Liebe und über Tränen, die wie Leuchtkäfer nach dem Urknall vor der Protomaterie herfliegen, wirr und konfus ob der plötzlichen Geschwindigkeit. Den Text und die Melodie erfinde ich instantan. Besonders gelungene Abschnitte untermale ich mit ausladenden Gesten.
Würde mich nicht wundern, wenn ich den mal irgendwo wiedersehe, denke ich mir, als ich mein Lied beendet habe und der Alte gerade hinter einem Gelenkomnibus verschwunden ist und verschwunden bleibt selbst nachdem der Bus längst weitergefahren ist.
Ich habe das dumpfe Gefühl, sollte ich jemals auf einem in der Zeit gefrorenen Atompilz spazieren gehen, ich die Leuchtkäfer wiedersehen und ein weiteres Schwätzchen mit dem Alten halten werde.
Ist aber nur so ein Gefühl.
Donnerstag, 24. November 2011
Aufstrich
Der winzige Engel dozte ein letztes Mal gegen das Milchglas der Deckenlampe, dann torkelte er unkontrolliert nach unten und fiel nach einem letzten Schlenker direkt in den Füllstutzen des elektrischen Fleischwolfs, mit dem ich gerade Wirsingmus nach einem Rezept meiner Mutter zubereitete. Leider war ich nicht nahe genug dabei, um das Malheur zu verhindern, da ich gerade das Radio lauter stellte nachdem der Moderator den neuen Hit von Cold Play angekündigt hatte.
Dabei war es wirklich unvorhersehbar, dass der Engel ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt abstürzen würde, schließlich umflatterte er die Lampe schon seitdem ich sie morgens eingeschaltet hatte, und zwar ohne erkennbare Ermüdungserscheinungen. Natürlich hatte ich mich bei meinem großen Engel, der ausnahmsweise einmal nicht auf seinem Zombie ritt, erkundigt, ob er sich einen Reim darauf machen könne, doch er winkte nur müde ab und blickte versonnen aus dem Fenster, wobei er sich halb in den zurückgezogenen Vorhang hängen ließ. Ich wusste, dass es keinerlei Sinn machte, ihn in einem solchen Zustand weiter zu befragen. Ebenso gut hätte ich mich mit meinen Schuhen unterhalten können. Die Luft im Zimmer war gut. Es roch nach Lavendel und Engel, vom Gestank des Zombies war nicht der geringste Hauch zu riechen.
Chris Martin jammerte gerade "Para, para, paradise, everytime she closed her eyes" aus den Lautsprechern, als die Engelpampe auch schon am Ende des Fleischwolfs hervorquoll. Glücklicherweise hatte ich gerade eben eine leere Schüssel untergestellt, sodass nichts davon in das Wirsingmus gelangte. Ich schaltete den Fleischwolf ab und besah mir die Masse etwas genauer. Sie hatte eine hellgelbe Farbe mit bläulichen und grünlichen Einsprengseln und schien unerwartet homogen, ohne feste Bestandteile wie etwa winzige Federkiele oder Fingerchen.
Ich tauchte meinen rechten Zeigefinger in die Masse. Sie fühlte sich leicht und luftig an, fast wie Eischnee. Und sie schmeckte auch so. Wie Eischnee mit Vanillezucker und einer leichten Note Lavendel. Eigentlich perfekt zu süßen Pfannkuchen mit Ahornsirup und einer dampfenden Tasse Kaffee dazu.
"Still lying underneath the stormy skies. She said oh-oh-oh-oh-oh-oh"
Dabei war es wirklich unvorhersehbar, dass der Engel ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt abstürzen würde, schließlich umflatterte er die Lampe schon seitdem ich sie morgens eingeschaltet hatte, und zwar ohne erkennbare Ermüdungserscheinungen. Natürlich hatte ich mich bei meinem großen Engel, der ausnahmsweise einmal nicht auf seinem Zombie ritt, erkundigt, ob er sich einen Reim darauf machen könne, doch er winkte nur müde ab und blickte versonnen aus dem Fenster, wobei er sich halb in den zurückgezogenen Vorhang hängen ließ. Ich wusste, dass es keinerlei Sinn machte, ihn in einem solchen Zustand weiter zu befragen. Ebenso gut hätte ich mich mit meinen Schuhen unterhalten können. Die Luft im Zimmer war gut. Es roch nach Lavendel und Engel, vom Gestank des Zombies war nicht der geringste Hauch zu riechen.
Chris Martin jammerte gerade "Para, para, paradise, everytime she closed her eyes" aus den Lautsprechern, als die Engelpampe auch schon am Ende des Fleischwolfs hervorquoll. Glücklicherweise hatte ich gerade eben eine leere Schüssel untergestellt, sodass nichts davon in das Wirsingmus gelangte. Ich schaltete den Fleischwolf ab und besah mir die Masse etwas genauer. Sie hatte eine hellgelbe Farbe mit bläulichen und grünlichen Einsprengseln und schien unerwartet homogen, ohne feste Bestandteile wie etwa winzige Federkiele oder Fingerchen.
Ich tauchte meinen rechten Zeigefinger in die Masse. Sie fühlte sich leicht und luftig an, fast wie Eischnee. Und sie schmeckte auch so. Wie Eischnee mit Vanillezucker und einer leichten Note Lavendel. Eigentlich perfekt zu süßen Pfannkuchen mit Ahornsirup und einer dampfenden Tasse Kaffee dazu.
"Still lying underneath the stormy skies. She said oh-oh-oh-oh-oh-oh"
Samstag, 19. November 2011
Orgie im Mondlicht
Über Geflatter und Geschrei
ein kleines wundes Sternenkind
gebettet und behütet
von Dunkelheit und stillem Sehnen
Der Rosenquarz in seiner kunterbunten Präsenz
Ich bin geläutert. Reinigender Mob.
Einen anderen Körper berühren,
Geräusche wie niedriges Unkraut im Garten.
Ich steige auf meine Leiter und besehe mir die Welt von oben.
Winzig-wütende Autos umkreisen die beiden Leiterfüße,
hupend und mit aufheulenden Motoren.
Sie scheinen sich gegenseitig zu verfolgen oder voreinander
zu fliehen, dabei den giftgrünen Gedankennebel aufwirbelnd
der knöchelhoch über dem Fußboden wabert.
Über mir die Deckenlampe flimmert, ungesund knisternd.
Ein winziger Engel umflattert sie taumelnd und torkelnd,
doch er hält seine Höhe. Ab und zu dozt er gegen das runde weiße
Glas der Lampe, woraufhin er jedesmal etwas an Höhe verliert.
Doch er gewinnt sie immer wieder rasch zurück.
Neben der Welt verläuft ein Weg aus Sand, darin sinkt man ein
bis zu den Knöcheln.
(PS: morgen ist der zweite Tag nach dem letzten Mondviertel im November, d.h. es ist Mblalolo levu, die "große Palolo-Zeit". Die Borstenwürmer in Samoas Korallenriffen schnüren ihre prallen Hinterteile ab, die sich sodann aufmachen an die Meeresoberfläche, um dort dann aufzuplatzen und Eier und Sperma zu vermischen. Eine Orgie aus lauter Ärschen. Und vermutlich ohne große Komplikationen)
ein kleines wundes Sternenkind
gebettet und behütet
von Dunkelheit und stillem Sehnen
Der Rosenquarz in seiner kunterbunten Präsenz
Ich bin geläutert. Reinigender Mob.
Einen anderen Körper berühren,
Geräusche wie niedriges Unkraut im Garten.
Ich steige auf meine Leiter und besehe mir die Welt von oben.
Winzig-wütende Autos umkreisen die beiden Leiterfüße,
hupend und mit aufheulenden Motoren.
Sie scheinen sich gegenseitig zu verfolgen oder voreinander
zu fliehen, dabei den giftgrünen Gedankennebel aufwirbelnd
der knöchelhoch über dem Fußboden wabert.
Über mir die Deckenlampe flimmert, ungesund knisternd.
Ein winziger Engel umflattert sie taumelnd und torkelnd,
doch er hält seine Höhe. Ab und zu dozt er gegen das runde weiße
Glas der Lampe, woraufhin er jedesmal etwas an Höhe verliert.
Doch er gewinnt sie immer wieder rasch zurück.
Neben der Welt verläuft ein Weg aus Sand, darin sinkt man ein
bis zu den Knöcheln.
(PS: morgen ist der zweite Tag nach dem letzten Mondviertel im November, d.h. es ist Mblalolo levu, die "große Palolo-Zeit". Die Borstenwürmer in Samoas Korallenriffen schnüren ihre prallen Hinterteile ab, die sich sodann aufmachen an die Meeresoberfläche, um dort dann aufzuplatzen und Eier und Sperma zu vermischen. Eine Orgie aus lauter Ärschen. Und vermutlich ohne große Komplikationen)
Dienstag, 15. November 2011
Herbstgebüsch
Im Angesicht der nachtfalterlosen Zeit wälze ich mich johlend und betend im Gebüsch. In der knappen Zeit fand ich kein Dornengesträuch, doch auch dieses erfüllt seinen Zweck, ich werde langsam zu Blatt und Erde. Bevor meine Synapsen damit beginnen, kapillarisch Wasser aus dem Humus zu saugen, denke ich an "Picknick am Wegrand" des russischen Autors Strugatzky. Ich stieß zufällig im Buchladen auf den unmodern schmalen Science-Fiction Roman, schlug ihn ohne zu überlegen auf und stieß prompt auf die Schlüsselszene, in welcher der Buchtitel erklärt wird. Das fand ich erstaunlich. Ja wirklich!
Noch erstaunlicher fand ich allerdings, was mir ein paar Tage zuvor im Gästezimmer einer guten Freundin widerfahren ist. Ich war gerade aufgestanden, als mein Blick auf einen guten Regalmeter des Zeit-Lexikons fiel. Ich griff willkürlich nach einem der weiß eingeschlagenen Bände und schlug ihn ohne Überlegung auf. Ich schaute auf ein Foto meiner kleinen Provinzheimatstadt, die sich zu diesem Zeitpunkt am anderen Ende Deutschlands befand. Hm...
"Nachtfalter ist ein schönes Wort", denke ich noch, ehe die Erdsäfte mein Sehnen und Stöhnen ersticken. Traumgetanztes Wunschgetöse, nur nicht so bedeutungsverseucht. Und hoch droben in der Nacht treibt der Stein durch die Schwärze, klein nur und unscheinbar. Scheint ein Stern darauf wird das All befunkelt wie von Glimmer und Diamant.
"Ich würde dem Stein gerne folgen", meint mein später Gast, "aber ich fürchte, ich bin zu spät dran"
"Ja, das steht zu befürchten, leider. Seit einiger Zeit scheint er noch zu beschleunigen"
"Ich könnte schon mithalten, wenn ich wollte. Wenn sein Vorsprung nicht so groß wäre. Er wird zur Sternschnuppe werden ohne mich."
Das Nachtfalterwort wird wie durch eine Springbox von der Vorstellung an Kampfstiefel ersetzt, die auf welken Synapsen tanzen. Ich erschrecke und schließe die Augen. Das Bild verschwindet und macht etwas anderem Platz. Ein schwarzer Ring mit strahlend hellem Zentrum, das langsam verblasst und, seltsam sirrend und zitternd, von nun an über anderen Räumen scheint.
Donnerstag, 10. November 2011
Montag, 7. November 2011
Die Zeit ist ein Texas Ranger
Die Zeit hatte sich als Chuck Norris verkleidet und hielt ein aberwitzig klobiges Gewehr in Händen. Mit einem fiesen Grinsen hob sie das Monstrum an und ballerte mir eine Salve Tage und Nächte ins Gesicht.Dann schmiss sie das rauchende Ding zu Boden, griff hinter sich und holte ein noch monströseres Schießgerät hervor. Dabei hätte die Zeit fast ihr Gleichgewicht verloren, doch nach einem kurzen Ausfallschritt und einem zähnebleckenden Grinsen hinter dem rotbraunen Bart stand sie wieder fest auf den Beinen und feuerte sofort eine Ladung Jahre in meine Richtung. Ich schloss geistesgegenwärtig die Augen, doch das stroboskopartige Geblitze drang durch meine geschlossenen Lider und wurde in meinem Gehirn zu einem Freudenfest bunter Lichtkringel.
Irgendwann war das Magazin leer und Zeit-Chuck schmiss auch die zweite Kanone in hohem Bogen von sich. Sein Gesicht gefiel mir gar nicht. Es sah aus, als würde er gleich losheulen. Und tatsächlich, schon fiel er nach vorne auf seine Knie und verbarg sein Gesicht in seinen Händen. Sein Körper wurde von heftigen Schluchzern durchgeschüttelt. Ich ging hin, tätschelte ihm den Rücken und sprach ein paar tröstende Worte.
Sonntag, 6. November 2011
Novemberhimmel
Der Nebel hing grau-weißlich oben am Himmel. Er war aber nicht gut beieinander heute, er musste sich auf den höchsten Waldkuppen abstützen und sank dort bedenklich tief zwischen die dunkelgrünbraunen Herbstbäume. Ich ließ mich davon nicht abhalten und lief trotzdem los, schön dünn angezogen, sodass ich auf den ersten zwei Kilometern etwas fröstelte. Das war genau richtig so. Denn zog ich mich dicker an, war mir zwar anfangs nicht kalt, dafür schwitzte ich dann gegen Ende der Joggingroute wie ein Schwein nach einem Boxkampf.
Der Engel und sein Zombie waren schon unterwegs; sie waren klar im Vorteil, was die Vorbereitungen für so einen kleinen Jogginglauf am Nachmittag betraf. Der Engel schien ohnehin nie Kleidung zu tragen, seine fluidale Körperkonsistenz war gleichzeitig auch eine Art Gewand, das nahtlos in seine Flügel überzugehen schien. Über die Atmungsaktivität einer solchen Konstruktion konnte ich nur spekulieren. Und ausserdem wusste ich ja nicht einmal, ob Engel überhaupt schwitzen. Noch nie war mir ein entsprechender Geruch an ihm aufgefallen.
Ob Zombies schwitzen weiß ich allerdings auch nicht, aber sie stinken bestialisch. Gott sei Dank nicht nach Schweiß, sondern eher nach Aas und Kloake. Doch selbst wenn Zombies schwitzen würden, meine Funktionskleidung würde ihm eh nicht passen, da er mindestens eineinhalb Köpfe größer ist als ich und ungefähr doppelt so breit.
Von Dehnübungen schienen meine Hausgäste auch nicht viel zu halten. Zombiemuskeln scheinen gegen Zerrungen gefeit zu sein. Es konnte sein, dass der Zombie den ganzen Tag völlig regungslos unter der Treppe saß. Dann sprang ihm der Engel von oben in den Nacken, und los gings im Galopp, erst am Friedhof vorbei und dann in den weitläufigen Wald. So auch heute. Von null auf 30 km/h in drei Sekunden. Sie waren schon zur Türe draußen, als ich den Tropfenfänger im hohen Bogen durch die Luft fliegen sah. Engel machte ihn immer ab, wenn er mit Zombie nach draußen ging, um ihn nicht allzuoft waschen zu müssen. Er hatte durchaus meine missbilligenden Blicke bemerkt, als er des öfteren den unappetitlich verfärbten Tropfenfänger zu meiner Wäsche in die Maschine gesteckt hatte. Irgendwann hatten wir uns dann darauf geeinigt, dass er das Ding nur noch zur 60°-Wäsche in die Maschine wirft und nicht mehr zu meinen empfindlichen 40°-Sachen.
Trotz des Hochnebels, der normalerweise einen windstillen Tag kennzeichnet, wehte eine ganz leichte Brise, die ganz sachte die gelbbraun-knusprigen Blätter an den Bäumen zum Herunterfallen überreden wollte. Ich lief meine übliche Waldrunde und dann aus purem Übermut noch einen Extraabstecher auf einem gewundenen Feldweg entlang eines schönes Waldrandes. Die Buchenäste mit ihren braunen kleinen Blättern hingen weit über. Stellte man sich mit dem Rücken zum Wald und schaute über die Landschaft, sah man ein dreigeteiltes Tableau: unten die grünen Wiesen, Wälder und vereinzelte Häuser, in der Mitte ein Querstreifen grauen Nebelhimmels, und darüber das überhängende Buchenlaubdach. An einer besonders schönen Stelle gibt es eine Bank für ruhebedürftige Spaziergänger, dort stieß ich auf meine beiden bereits erwähnten Mit- bzw. Vorausläufer, sie saßen einträchtig nebeneinander und schienen etwas am Himmel zu beobachten. Bei dem einen trüben Auge des Zombies war es natürlich schwer zu sagen, ob er wirklich etwas beobachtete oder nur zufällig in die entsprechende Richtung schaute. Doch der Engel schien wirklich fasziniert zu sein von dem was er sah, nicht einmal eine Ecke seines ätherischen Gewandes bewegte sich, seine Miene war pure Verzückung.
Ich hielt inne und blickte in die Richtung, in die meine beiden Freunde schauten. Unterhalb des überhängenden Blätterdaches tanzte ein einzelnes, braunes Buchenblatt im Wind. Es fiel nicht nach unten, sondern drehte sich und hüpfte in der leichten Brise frei vor dem dahinterliegenden grauen Nebelhimmel. Ich setzte mich zu den beiden auf die Bank, der Engel zwischen mir und dem Zombie.
Das Blatt rotierte wie wild auf der Stelle, völlig frei schwebend zwischen Himmel und Erde. Dann kamm es zum Stillstand, hielt kurz inne, ehe es drei bedächtige Hüpfer zur Seite machte. Dann stieg es langsam einige Zentimeter nach oben, um in einer sanften Wellenbewegung wieder nach unten zu sinken. Dann begann es wieder zu rotieren, immer in derselben Drehrichtung. Dann eine gemächliche Bewegung zur Seite, eine kurze Ruhephase, wieder ein paar Hüpfer, dann wieder schnelles Rotieren. Es war ein ausgelassener Tanz der Schwerelosigkeit, ein Freudenfest der Ausgelassenheit an diesem trüben Nebeltag.
Ich wusste natürlich, dass das Blatt an einem unsichtbaren Spinnenfaden hing, der sich irgendwo oben in den überhängenden Ästen verfangen hatte. Aber diese Erkenntnis tat der geradezu hypnotisierenden Wirkung dieses Tanzes keinen Abbruch. Ich wünschte, ich hätte eine Videokamera zur Hand gehabt. Ich hätte sie auf ein Stativ geschraubt und vier Stunden lang den Tanz des Buchenblattes vor grauweißem Himmel aufgezeichnet. Später dann hätte ich den Film an die weiße Wand einer angesagten Galerie projiziert. Aber so, dass er auch von draußen, von den vorbeieilenden Passanten hätte gesehen werden können. Die könnten dann verweilen und aus Zombie- bzw. Engelaugen auf das tanzende Blatt an der Wand gucken.
Wir saßen andächtig und schweigend auf der Bank. Das nassgraue Wetter sorgte dafür, dass wir nicht von Spaziergängern gestört wurden. Nach etwa einer halben Stunde war meine Laufhitze soweit abgeklungen, dass ich leicht zu frösteln begann. Es war aber ohnehin viel besser, wenn ich aufbrach bevor das Blatt wirklich zu Boden fiel, denn dieser Anblick hätte mich arg betrübt. Es war seltsam beruhigend zu beobachten, wie der Wind immer neue Blätter daran vorbei zur Erde taumeln ließ, das Zauberblatt aber weiterhin seinen fröhlichen Herbsttanz aufführte. Auf meinem Weg nach Hause hatte ich dieses Bild vor Augen: mein Engel und der Zombie einträchtig und wie hypnotisiert auf der Bank sitzend, das in der Luft gaukelnde Blatt bewundernd. Und mir fiel eine weitere Geschichte ein, die sich vor etwa 15 Jahren zugetragen hatte.
Ich befand mich mit meinem damals etwa sechsjährigen Neffen in unserer Reparaturgrube und schraubte irgendetwas an meinem Auto herum. In der Ecke der Grube hatte sich eine Hühnerfeder unserer federfüßigen Zwerghühner an einem unsichtbaren Spinnenfaden verfangen und rotierte wie wild in einem unfühlbaren Luftzug. Mein Neffe bemerkte die Feder und meinte:
"Schau mal, eine Kunstfeder"
Ich musste natürlich den Klugscheißer herauskehren und sagte:
"Das ist keine Kunstfeder, das ist eine echte Feder!"
Darauf begab es sich, dass die Welt ein kleines Stück lustiger und angenehmer wurde, denn mein sechsjähriger Neffe meinte daraufhin:
"Ja. Aber wie sie da hängt, das ist reine Kunst!"
Montag, 31. Oktober 2011
Feiertag!
Die Blase drückt, Namensuchmann springt vom Stuhl auf. Das Frühstück ist zwar noch nicht beendet, doch immerhin das warme weichgekochte Ei ist bereits verspeist. Der Rest kann warten. Mit voller Blase isst es sich nicht sonderlich entspannt.
Ein Sprung, und die Treppe ist erreicht. Ein Blick zur Haustüre, sie steht einen Spalt offen. Namensuchmann hatte sie absichtlich nicht ganz geschlossen, als er morgens die Zeitung aus dem Schuber geholt hatte. Ein wenig frische Luft würde dem Flur gut tun. Doch jetzt war da dieser offene Spalt nach draußen, und Namensuchmann fast noch in der Luft, ehe er auf der untersten Stufe der Treppe landen würde, die nach oben zum Badezimmer führt. Ein Sprung durch den Flur, eine offene Haustüre, eine volle Blase, und der gedeckte Frühstückstisch in der Küche mit der aufgebrochenen Schale des verspeisten Ei darauf. Namensuchmann war kurz verwirrt. Eine alltägliche Situation, oberflächlich betrachtet. Doch aus irgendeinem Grund versuchte sein Gehirn, diese Szenerie neu zu ordnen, in neue Zusammenhänge zu bringen. Eine Musterumstellung, fuhr es Namensuchman durch den Kopf, eine Neuordnung seiner Synapsen. Aus heiterem Himmel. Doch warum ausgerechnet jetzt, während dieses Sprungs auf die unterste Treppenstufe an diesem nebligen Montagmorgen?
Kurz vor der Landung riss die Realität dann tatsächlich für einen kurzen Moment auseinander. Der Türspalt wurde für einen Sekundenbruchteil zu einem waagrechten Mund aus Licht und Nebel. Die ballistische Flugbahn von Namensuchmanns Körperschwerpunkt dehnte sich zu unphysikalischen, fast traumhaften Weiten, seltsame Querverbindungen und Verstrebungen seiner Realitätsbezüge offenbarten sich wie von einem Gewitterblitz erhellt. Die Wirklichkeit, sonst eine hellgraue, heterogene Masse ohne eindeutiges Aroma oder gar Geruch wurde durchbrochen von Flugbahnvektoren und Lichtemissionen aus schwankenden, linearen Öffnungen und Durchgängen. Durch das Chaos drang die Erinnerung an einen bestimmten Duft in Namensuchmanns Bewusstsein. Er wusste jedoch nicht, war diese Erinnerung Auslöser oder nur Produkt dieser unerwarteten morgendlichen Denkattacke. Bis sein rechter Fuß die unterste Treppenstufe berühren würde, hatte er noch etwas Zeit. Wobei die Vektoren seiner Bewegung gefährlich in Richtung der zweiten Stufe zielten. Das wäre eigentlich kein Problem, er hatte schon oft die unterste Stufe ausgelassen, wenn er nach oben ins Badezimmer gestürmt war. Doch nun befanden sich in seinem Hirn Synapsen, die voll und ganz damit beschäftigt waren, sein rechtes Bein so zu koordinieren, dass sein Fuß auf die unterste Stufe treffen würde. Bei Gelegenheit würde er sich jedoch darum kümmern. Noch war genug Zeit, sich über das Skalarfeld der Liebe Gedanken zu machen. Namensuchmann erinnerte sich, dass man sich den Unterschied zwischen einem Skalarfeld und einem Vektorfeld am besten mit Hilfe einer Wetterkarte verdeutlichen kann. Die Temperaturverteilung bildet hierbei ein skalares Feld. Jedem Punkt auf der Karte ist genau ein Temperaturwert zugeordnet. Mehr braucht es nicht. Anders sieht es jedoch bei der Angabe der Windverhältnisse aus. Es genügt nicht, jedem Punkt auf der Karte einen bestimmten Wert für die Windgeschwindigkeit zuzuordnen. Denn man braucht zu jeder Windstärkenangabe immer auch die Richtung, aus der der Wind weht. Also zwei Angaben. Die Windverteilung bildet somit ein Vektorfeld. Stärke und Richtung. Wie Namensuchmanns Flugproblem, während er sich der Treppe näherte. Die Bedeutung der offenstehenden Haustüre war ihm allerdings unklar, auch wenn sich die schmale Öffnung noch mehrmals drehen sollte. Graue, homogene Realitätsmasse. Die Liebe ein Skalarfeld, ohne Richtung, doch mit einer Intensitätsverteilung wie ein Hochgebirgsplateau, das von zurückweichenden Gletschern freigegeben wurde. Die zweite Treppenstufe. Namensuchmann bereitete sich darauf vor.
Sonntag, 30. Oktober 2011
Per aspera ad astra
Manchmal wird man ja plötzlich emotional emporgerissen und weiß erst gar nicht, was denn nun los ist. Da schwebt man dann drei Kilometer über der Landschaft mit ihrem Patchworkmuster aus abgeernteten Feldern und den kleinen miefigen Käffern dazwischen. Falls es zufällig abends oder gar nachts passiert, kann man natürlich bei der Gelegenheit gleich noch nach Planeten gucken. Dieses Jahr waren ja leider keine zu sehen, ausser in der zweiten Nachthälfte oder gar nur frühmorgens, wenn rechtschaffen müde Krieger schlafen und sich von ihren Engeln in ihre Träume quasseln lassen. Na ja, und Saturn natürlich, der war schon zugegen auch abends und in der ersten Nachthälfte. Aber leider ist er relativ unscheinbar und von einem Stern nur dann zu unterscheiden, wenn man raufguckt und sich denkt: "Hm...was ist denn das...der gehört da doch gar nicht hin, das muss Saturn sein".
Und dann wäre da ja noch Jupiter. Der ging bisher nur leider erst so spät auf, dass er erst nach Mitternacht gut gesehen werden konnte; dann allerdings war er sehr eindrucksvoll. Am 29. Oktober aber, und nun sehe ich, dass das schon gestern war, stand Jupiter in Opposition zur Sonne, was bedeutet, dass er im Osten aufgeht, wenn die Sonne im Westen untergeht. Zwei oder drei Stunden danach ist er dann schon gut im Osten zu sehen. Sein Aufgang wird sich weiter verfrühen, bis er in einigen Wochen bei Einbruch der Nacht schon hoch am Himmel stehen wird. Dann wird der Abendhimmel endlich wieder verplanetet sein und man kann im Dunkeln joggen, ohne Gefahr zu laufen, von den Sternen aufgeschlürft zu werden.
Das wahre Highlight kommt jedoch mit Ende des Monats über uns: Venus schickt sich wieder mal an, Abendstern zu werden. Um den 31. Oktober herum müsste es bei ausgezeichneten Sichtbedingungen und freiem Horizont möglich sein, sie erstmals wieder kurz nach Sonnenuntergang über dem südwestlichen Horizont zu entdecken. Dann wird sie fast täglich bei Einbruch der Nacht etwas höher am Himmel stehen, bis sie kommendes Frühjahr dann strahlender Abendstern sein wird.
Doch noch ist sie selbst aus mehreren Kilometern Höhe nicht zu sehen. Es wird kühl hier hoben, und drunten schiebt sich Nebel über eine dicke Decke bleierner Stille. Ich überlege, wie lange der Auftrieb wohl noch anhalten wird und suche nach optischen Anhaltspunkten für ein Steigen oder Sinken, doch es fehlt jeglicher Bezugspunkt. Ich denke nochmals an den Menschen, an den ich vorhin gedacht habe und merke nun am plötzlich auftretenden Wind, dass ich enorm an Höhe gewinne. Die Luft wird dünn hier oben, und es ist fast schon eisig, ich spüre die ersten winzigen Eiskristalle in meiner Nase. Ich darf nicht mehr denken. Am besten schlafe ich eine Runde. Traumbeschwert werde ich dann langsam nach unten sinken. Ich hoffe nur, ich lande nicht schlafend auf einer vielbefahrenen Straße oder gar dem See. Die Arme leicht ausgestreckt, die Beine etwas gebeugt mache ich die Augen zu. Drunten die Prozessionen leuchten wie glimmende Lindwürmer, Dreschflegel und Sensen wie verdorrte Wälder.
Donnerstag, 27. Oktober 2011
Berlin Calling
In 800 Millionen Jahren wird die Sonne ihre Leuchtkraft soweit erhöht haben, dass höheres Leben auf der Erde nicht mehr möglich sein wird. Nach weiteren 4 Milliarden Jahren wird die Sonne sich soweit vergrößert haben, dass sie die Erde verschlucken wird. Doch zuvor wird alles Wasser, alle Luft und alles, was einmal gelebt hat, verdampft und in den Weltraum entwichen sein.
Ich höre mir zwei Lieder auf Youtube an. Lied 1
Ihre Schwingungen pflanzen sich in der Atmosphäre fort, laufen einmal um den Globus, zweimal, dreimal...gehen auf im ewigen Gesumm der Welt. Werden sie dereinst auch in den Weltraum geblasen werden mit dem Rest der Atmosphäre? Werden winzige Gasmoleküle und Photonen im schwarzen und gleissenden Vakuum erzählen von einem Planeten, der einmal einen kleinen gelben Stern umkreist hat? Ein Planet, auf dem solche Lieder erdacht wurden? Von einer Spezies, die sich selbst folterte und tötete ohne Unterlass?
Lied 2
Sterne, die über buntschillernden Planeten stehen. Sonnen in gleissenden Gasnebeln. Dazwischen Schwärze und dunkle Energie, die das Universum unweigerlich auseinandertreibt bis es zerreissen wird; oder in ewiger Dunkelheit vergehen. Ein Photon, das von einem Lied zeugt, ein Fragment nur, doch es klingt und tönt ganz leise durch das uralte All.
Und niemand schlafe, niemals!
Dienstag, 25. Oktober 2011
Unterm Licht
Man kann es tun.
Man kann einfach so eine Welt erbauen.
Man kann ein wundes Herz erschaffen und
es im nächsten Moment vergolden.
Man kann die Bläue des Himmels in Quader gießen
und daraus eine Hütte bauen mit Seeblick und
Anlegesteg. Man kann ein Kanu beseelen und
mit einer Laterne ausrüsten weil man erst in der
Dämmerung heimkehren wird.
All das kann man tun.
Sonntag, 23. Oktober 2011
Samstag, 22. Oktober 2011
Tropfenfänger
"Komm, lass uns einkaufen gehen, ich möchte Menschen anlächeln"
Ich blickte vom Bildschirm meines Laptops auf. Mein Engel hatte wieder einmal den Zombie völlig geräuschlos durch die Tür und hinter meinen Stuhl bugsiert. Unter der leeren Augenhöhle des Untoten klemmte ein altertümlicher Tropfenfänger, mit einem dünnen Gummiband am Kopf fixiert. Ich war beeindruckt. Nun erklärte sich der Umstand, warum seit einiger Zeit keine stinkenden Tropfen gelbroten Leichensaftes mehr im Haus zu finden waren. Mein Engel schien eine rudimentäre Form von Verantwortungsgefühl für seine Reitgelegenheit zu entwickeln.
Doch kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht, rieb der Engel leicht an den Schläfen des Zombies, worauf dieser sich langsam nach vorne beugte. Im Nacken des Zombies sitzend näherte der Engel sich so dem Bildschirm. Er schien Interesse daran zu haben, was ich da am Computer gerade so trieb. Ich lehnte mich zurück und gewährte ihm großzügig Einblick. Zu sehen war die Eingabemaske des Blogs, an dem ich seit einiger Zeit schrieb. Der Engel beugte sich über den Kopf des Zombies, den er nun mit seinen Armen umschlungen hielt. Flüchtig hatte ich dabei den Eindruck, dass der Engel sich nicht festhalten musste, um nicht abzustürzen, sondern um nicht davonzuschweben.
So nahe wie jetzt waren sich unsere Gesichter schon lange nicht mehr. Während der Engel aufmerksam las, was ich soeben geschrieben hatte, betrachtete ich eingehend sein Profil. Seine Lippen bewegten sich leicht im Rhythmus des Textes, auch wenn er nicht laut las, und ich konnte vereinzelt Worte erkennen, die ich vor ein paar Minuten erst in die Tastatur getippt hatte. Das Profil des Engels war mir seltsam vertraut, und schon so manches Mal glaubte ich eine leichte doch unleugbare Ähnlichkeit mit mir zu erkennen. Allerdings war die leicht durchsichtige Konsistenz des Engels natürlich für so manche optische Täuschung gut. Aber nicht in diesem Augenblick. Das leicht bläuliche Licht des Monitors schien genau die richtige Wellenlänge zu haben, um die Moleküle im Gesicht des Engels in Resonanz bringen. Da ich ihn nur von der Seite betrachtete, ohne selbst vom Monitor geblendet zu werden, konnte ich zum ersten Mal kleine Fältchen unter und neben den Engelsaugen erkennen. Auf den ersten Blick hielt ich sie für Lachfältchen, doch ich schaute genauer hin. Es waren nicht wirkliche Lachfältchen, obwohl sie eine Art gelassene Heiterkeit ausstrahlten. Doch da war noch etwas anderes um diese Augen, die so konzentriert meinen Text lasen. Ja, da war eindeutig auch Traurigkeit. Und Sehnsucht. Ich versuchte, genauer hinzuschauen. Ganz kurz wendete der Engel sein Gesicht vom Bildschirm ab und blickte in meine Richtung, doch was er sah, schien ihn zu beruhigen und er wendete seine Aufmerksamkeit wieder meinem Text zu.
Ich beugte mich eine Winzigkeit vor, um besser sehen zu können. Diesmal wendete der Engel nicht seinen Kopf, sondern ließ nur für einen kurzen Moment seine Augen in meine Richtung huschen. Ich sah nun die stille Heiterkeit in seinen Augen und den Fältchen darum herum, und ich sah die Traurigkeit und die Sehnsucht.
Seltsam, dachte ich bei mir. Ich wusste nicht, ob er schon immer so ausgesehen hatte, oder ob er nur so schnell gealtert war in meiner Gegenwart. Oder es lag ganz einfach daran, dass ich ihn noch nie so nah und bei so günstiger Beleuchtung gesehen hatte.
Jetzt rieb der Engel leicht an den Schläfen des Zombies, der die ganze Zeit völlig still und regungslos in dieser unbequemen Beugehaltung verharrt hatte. Langsam richtete er sich wieder auf, der Engel wurde wieder emporgehoben. Während er Höhe gewann, schaute er mir kurz in die Augen und lächelte.
"Ich möchte jetzt hinausgehen!", rief er plötzlich und deutete durch das Fenster nach draußen. Eben war es noch grau und nebelverhangen gewesen, doch über unserem kleinen Stelldichein war es Winter geworden. Die Landschaft war weiß zugedeckt, und die Sonne funkelte auf Millionen Schneekristallen. Der Zombie wendete sich um und das ungleiche Paar stürmte hinaus. Ich hinterher. Draußen das gleissende Winterlicht war überhaupt nicht kalt.
Donnerstag, 20. Oktober 2011
Heimat
"Nein", sagte Namensuchmann, "Und nochmals nein!"
Der Mensch sah etwas bekümmert drein nun, doch er machte keinerlei Anstalten zu gehen. Im Gegenteil, er kroch sogar näher. Namensuchmann war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob dies wirklich noch die Erde war; die beiden Monde am Himmel irritierten ihn ein wenig. Der Mensch begann zu grunzen. Die Grunzlaute schwebten lange wie unentschlossen über dem kleinen gepflasterten Platz, ehe sie nach unten stürzten und sich zu Worten formen wollten. Doch die Silben und Enden wollten nicht richtig zusammenfinden, es entstanden lediglich groteske Ausdrücke von brutal-archaischer Wucht. Namensuchmann riss sich die Kleidung vom Leib und warf sich in den wimmelnden Wortbrei. Er wälzte sich erst auf die eine Seite, dann auf die andere und verharrte schließlich auf dem Rücken liegend, mit beiden Händen die Wortmutanten auf seinen nackten Bauch schaufelnd. Zwischen seinen Schulterblättern spürte er winzige Stiche, und etwas versuchte, sich zwischen seine Pobacken zu zwängen. Der Mensch hatte aufgehört zu grunzen und stand nun plötzlich am Rande des kleinen Platzes, unschlüssig seine Hände betrachtend.
`Es ist kalt an diesem Ort´, sagte sich Namensuchman während er in seinem Tun innehielt. `Doch die wimmelnden fremdartigen Worte sind warm´ . Er nahm eines davon und biss ein Stück davon ab. Sie waren offensichtlich sogar nahrhaft. Man konnte es hier aushalten, auf dieser Welt. Der Grunzmensch war fort.
Mittwoch, 12. Oktober 2011
Lars von Trier, Idi Amin und ein bißchen Zeit
Melancholia ist ein sehr schöner Name für einen Planeten. Vorausgesetzt natürlich, man betont das i sehr lang und spricht das o nur ganz kurz aus. Melancholiiiiia! Aus irgendeinem nur schwer erfindlichen Grunde verlängerte ich gedanklich immer das o, obwohl ich das gängige Wort Melancholie durchaus stets auf der letzten Silbe betonte. Ich würde es heute noch so handhaben, wäre der Name nicht im Film mal ausgesprochen worden. So ganz nebenbei, ohne viel Aufhebens. Ich hätte den Moment fast verpasst, weil mir zwischendurch mal schlecht wurde wegen der exzessiv eingesetzten Wackelkamera, die bei Dialogen ohne Schnitt zwischen den Gesichtern hin- und herschwenkte. Eine immer weiter um sich greifende Unart der Regisseure.
Ich machte also während der ersten 20 Minuten meistens die Augen zu und genoss den Film als Hörspiel. Dann war´s wieder gut und ich ließ mich von den Bildern des Films berauschen. Märchenhafte, surrealistische Bilder. Eine nackte Kirsten Dunst. Einmal bar jeder Erotik, als sie es wegen ihrer Depression nicht mal mit Hilfe ihrer Schwester schafft in die Badewanne zu steigen, und einmal zum Anbeißen, als sie nackt ausgestreckt draußen im bläulichen Licht der groß und fett am Himmel stehenden Melancholia an einem Bachufer liegt. Dann irgendwann der Crash, der eigentlich eher eine Vereinigung ist. Kollisionen im All müssen ja nicht immer mit diesen aberwitzig hohen Geschwindigkeiten vonstatten gehen. Wird ein Planet "von hinten" eingeholt, kann sich das Ganze auch sehr langsam vollziehen. Wie in Zeitlupe. Als würde die Erde in den Schoß ihrer Mutter zurückkehren. Als würde ein Irrtum rückgängig gemacht.
Drei Menschen setzen sich auf eine Wiese und halten sich an den Händen: die beiden erwachsenen Schwestern und der etwa 8jährige Sohn von der Schwester ohne Depris, gespielt von Charlotte Gainsbourg, einer Schauspielern mit einer extrem nervigen Mundform. Der ganze Himmel ist eingenommen von dem auf die Erde zustürzenden Planeten, man kann schon Details seiner Oberfläche erkennen. Es wäre irgendwie doch schade um diese Welt, fährt es dem Zuschauer da durch den Kopf. Schade um die schönen Gärten, die schönen Klippen, das Meer und die schöne Kirsten Dunst, deren Mund alles andere als nervig ist.
Draußen dann, auf dem Heimweg, steht hell glänzend Jupiter am Himmel. Was wäre, wenn er jetzt plötzlich heller werden würde? Woher plötzlich einen geliebten Menschen nehmen, mit dem man händchenhaltend sich auf einer Wiese niedersetzen könnte? Was, wenn es Winter wäre oder Spätherbst und die Wiese nur eine nasse Eisplatte? Was, wenn sich Jupiter von der gegenüberliegenden Seite der Erde aus nähern würde und man ihn folglich gar nicht sehen würde auf dieser Seite? Dabei muss es ja nicht mal Jupiter sein, es geht schließlich auch einige Nummern kleiner.
Ich denke an einen Bericht im SPIEGEL, über Idi Amins ehemaligen Leibkoch. Idi Amin, ehemaliger ugandischer Diktator, hat natürlich auch einmal klein angefangen. Als junger Feldwebel hatte er die Aufgabe, ein Waffenlager von Viehdieben auszuheben. Aber die Viehdiebe wollten nicht sagen, wo es sich befindet. Also ließ er ihnen die Klamotten abnehmen und stellte den ersten vor einen Tisch, den Penis auf der Tischplatte. Dann hob Amin ein Buschmesser und fragte nochmal nach den Waffen. Der Mann verriet nichts. Sein Penis blieb auf dem Tisch liegen, er selbst wurde weggeschleppt. Erst der neunte redete schließlich. Scheißspiel. Mal davon abgesehen, dass ich persönlich mein Teil nicht für irgendwelche schrottigen Waffen opfern würde. Aber wieviel tragischer ist es für die ersten acht, wenn der neunte dann redet? Womöglich war der neunte ein sowieso unsympathischer Kotzbrockencousin vom ersten, der an der Reihe war. Was geht dann in dem ersten vor, vorausgesetzt, er hat überlebt? Ich stelle mir diese Situation vor, acht Penisse auf einer blutbesudelten Tischplatte, drumherum feixende Soldaten. Und oben drüber Melancholiiiia, den ganzen Himmel einehmend, man kann schon einzelne Wolken sehen in ihrer Atmosphäre, wie sie sich herabsenkt und es in grenzenloser Güte auf sich nimmt, diesen verkommenen Planeten zu entsorgen. Dann ist es plötzlich gar nicht mehr traurig. Nur noch ein bißchen. Melancholiiia über Massenschweineställen. Über Putenzuchtbarracken. Über einem Kaff in Mali, wo die Beschneiderin sich gerade über das Mädchen beugt. Melancholiiiia über acht einsamen Penissen in Uganda.
Wie fragil diese Planetengeschichte da draußen ist kann man sich nur schwer vorstellen. Natürlich gibt es keinen versteckten Planeten auf der anderen Seite der Sonne. Dessen gravitativen Einfluss hätten die Astronomen längst bemerkt. Aber die Gravitation ist die schwächste bekannte Kraft im Universum, und doch wird alles von ihr zusammengehalten. Ein winziger Schubbser, und alles geriete aus den Fugen. Ein dunkler Stern, der weit draußen unerkannt an der Sonne vorbeizöge, könnte ausreichen, um das ganze Planetensystem durcheinanderzuwirbeln. Mars auf Erde. Marserde in die Sonne. Jupiter schluckt Merkur. Zeit die vergeht. In der Atacamawüste in Südamerika kann man die Zeit anfassen. Man kann die Hand darauf legen. Über sie hinwegstreichen. Da liegen große Felsbrocken, viele davon mit einer vollkommen plan geschliffenen Seite. Die Geologen konnten nicht erklären, was für ein Mechanismus dafür verantwortlich gewesen sein könnte. Der Zufall kam ihnen schließlich zu Hilfe. Ein Geologenteam machte Rast inmitten dieser Wüstenfläche, die von Horizont zu Horizont reicht und übersät ist mit Steinbrocken in allen Größen. Dann gab es ein Erdbeben. Lagen zwei Brocken dicht beieinander, wurden sie durch das Beben aneinandergeschuckert. Nun dauert so ein Erdbeben ja nicht allzulange, und allzu oft kommt es auch nicht vor. Doch wenn man Millionen und Abermillionen Jahre Zeit hat, dann reicht dieses unregelmäßige Bebengeschuckere aus, um rauhe, unebene Steine völlig plan zu schleifen. Ob die Hand irgendwie schimmert, wenn man sie auf so eine glattpolierte Stelle legt? Oder gibt es kleine Funken aus Zeit, die überschlagen vor der eigentlichen Berührung? Sich hinsetzen, sich an so einen Stein lehnen und Zeit werden. Nach oben schauen und Melancholiiiia bewundern. An einen geliebten Menschen denken. Und an acht einsame Penisse auf einem Tisch.
Montag, 10. Oktober 2011
Montag
Ich würde gerne Worte finden und sie
zu floralen Mustern anordnen oder in
die Formen weiblicher Körper zaubern.
In das Chaos greifen und Spuren weben
mit den eigenen Händen und sie hinter
mir auslegen falls mir jemand folgen möchte.
zu floralen Mustern anordnen oder in
die Formen weiblicher Körper zaubern.
In das Chaos greifen und Spuren weben
mit den eigenen Händen und sie hinter
mir auslegen falls mir jemand folgen möchte.
Mittwoch, 5. Oktober 2011
Herbstzeit
Insgesamt betrachtet sind Frühling und Sommer wohl die schönsten Jahreszeiten - wenn man alles aufsummiert: die lauen, nicht enden wollenden Abende, der warme Regen, die Grillen, die abends ihre Konzerte veranstalten, der Blütenreichtum, die Erdbeeren und die Kirschen, die warmen Morgen, die einen fröhlich aus dem Bett scheuchen, die Schwärme von Fledermäusen in der abendlichen Dämmerung und der warme Wind, der einem selbst nachts noch unters T-Shirt fährt. Doch die schönsten Momente des Jahres bietet eindeutig der Herbst. Insgesamt kackt er natürlich enorm ab wegen der Kälte und der Nässe und weil man einfach immer an den bevorstehenden Winter denken muss. Doch es gibt Augenblicke in dieser Jahreszeit, da reicht einfach nix anderes heran (Sex ausgenommen, aber dazu später mehr). Und zwar meine ich diese knusprigen Spätsommertage, wenn die Sonne gerade noch so auf der Haut britzelt, um einen herum aber schon die gelbgefärbten Herbstblätter von den Bäumen herunterrascheln und -taumeln. Wenn man dann noch ein paar Stellen weiß, die von diesem Knusperlaub bedeckt aber nicht mit Hundekot unterfüttert sind, dann kann man sich da hineinwerfen und sich darin wälzen wie Dagobert in seinen Geldscheinen. Und droben blinzelt die Sonne durch die Birke.
Man beachte die Windsimulanten in der Fichte im Hintergrund
Ich liege auf der Decke, unter der das Herbstlaub knistert, und schaue nach oben. Gelbe Birkenblätter torkeln vom Sonnenlicht befunkelt auf mich herab. Würde ich den Kopf drehen, den Hals krümmen und nach schräg hinten sehen, sähe ich im blauen Taghimmel den blassen Mond im ersten Viertel (aus Gründen, die mir teils selbst unerklärlich, teils äusserst niederer Natur sind, ersetze ich im weiteren Text das Wort "Mond" durch das Wort "Arsch"). Nun denken nicht wenige Menschen, dass "erstes Viertel" bedeutet, der Arsch wäre nur zu einem viertel beleuchtet, hätte also Sichelgestalt. Doch das ist ein Irrtum. Ein kompletter Arschzyklus dauert etwa 28 Tage von Neuarsch zu Neuarsch. Neuarsch bedeutet, der Arsch befindet sich zwischen Erde und Sonne und ist somit nicht zu beobachten, weil er von der Sonne am Taghimmel hoffnungslos überstrahlt wird. Nach 14 Tagen hat der Arsch einen Halbkreis beschrieben, nun befindet sich die Erde zwischen Arsch und Sonne. Wir sehen den Arsch voll beleuchtet, es ist Vollarsch. Hat der Arsch aber nach 7 Tagen erst einen Viertelkreis beschrieben, befindet er sich im ersten Viertel seines Zyklus, ist von der Erde aus gesehen aber halb beleuchtet, wie man aus der nachfolgenden kleinen Skizze ersehen kann.
Nun gehen eindringliche, um nicht zu sagen grandiose Naturerlebnisse stets mit gewissen sexuellen Aufwallungen einher, wie allgemein bekannt sein dürfte. Angesichts des Mondes im ersten Viertel (ich verwende im weiteren Verlauf des Textes wieder die ursprüngliche Bezeichnung unseres natürlichen Erdtrabanten), der sich schräg hinter mir am südöstlichen Himmel befindet, denke ich an den Samoanischen Borstenwurm, auch Samoa-Palolo genannt. Er wird bis zu 70 cm lang und lebt in den Korallenriffen des südlichen Pazifik. Dort gräbt er sich mit dem Kopf voran in den Kalk und ernährt sich daselbst von Algen. Die Fortpflanzung des Palolo-Wurms ist eng mit den Mondphasen verknüpft. Exakt am zweiten und dritten Tag nach dem letzten Viertel im Oktober schnürt er seinen bis zu 40 cm langen borstigen Hinterleib ab, in dem er vorher seine Spermien oder Eizellen gebildet hat. Dieser prall mit "Geschlechtsprodukten" (ich liebe diesen Biologenslang) gefüllte borstige Hinterleib (ugs.: Arsch) ist jedoch beileibe nicht untätig. Er verfügt über ein gewisses Eigenleben und befördert sich mit schlängelnden Bewegungen an die Wasseroberfläche. Dort angekommen trifft er sich mit den anderen Ärschen zu einer Orgie von geradezu biblischen Ausmaßen. Männliche und weibliche Ärsche öffnen sich und entlassen ihre Produkte ins Wasser, wo die Befruchtung stattfindet. Dieselbe Prozedur wiederholt sich genau einen Monat später, kurz nach dem letzten Novemberviertel der Mondphase.
Die Fischer auf Samoa sind auf dieses Ereignis vorbereitet und schöpfen die meterdick auf der Wasseroberfläche treibende Suppe aus Sperma und Eiern ab. Sie ist natürlich sehr nahrhaft und gilt als Delikatesse.
Würde ich einer Religion anhängen, die an Wiedergeburt glaubt, würde ich mir vermutlich Gedanken machen, wessen ich mich schuldig machen müsste, damit ich zur Strafe als Samoa-Palolo wiedergeboren werde. Jedes Jahr aufs Neue dieselbe Zeremonie: "Good bye Arsch, wünsche viel Vergnügen! Ich werde an dich denken!"
Während ich langsam von gelben Birkenblättern bedeckt werde, denke ich noch kurz an Pfaffen- und Nonnenseelen, die sich in Südseekorallen graben. Die Windsimulanten von Epsilon Eridani warten auf ihren Feierabend.
Man beachte die Windsimulanten in der Fichte im Hintergrund
Ich liege auf der Decke, unter der das Herbstlaub knistert, und schaue nach oben. Gelbe Birkenblätter torkeln vom Sonnenlicht befunkelt auf mich herab. Würde ich den Kopf drehen, den Hals krümmen und nach schräg hinten sehen, sähe ich im blauen Taghimmel den blassen Mond im ersten Viertel (aus Gründen, die mir teils selbst unerklärlich, teils äusserst niederer Natur sind, ersetze ich im weiteren Text das Wort "Mond" durch das Wort "Arsch"). Nun denken nicht wenige Menschen, dass "erstes Viertel" bedeutet, der Arsch wäre nur zu einem viertel beleuchtet, hätte also Sichelgestalt. Doch das ist ein Irrtum. Ein kompletter Arschzyklus dauert etwa 28 Tage von Neuarsch zu Neuarsch. Neuarsch bedeutet, der Arsch befindet sich zwischen Erde und Sonne und ist somit nicht zu beobachten, weil er von der Sonne am Taghimmel hoffnungslos überstrahlt wird. Nach 14 Tagen hat der Arsch einen Halbkreis beschrieben, nun befindet sich die Erde zwischen Arsch und Sonne. Wir sehen den Arsch voll beleuchtet, es ist Vollarsch. Hat der Arsch aber nach 7 Tagen erst einen Viertelkreis beschrieben, befindet er sich im ersten Viertel seines Zyklus, ist von der Erde aus gesehen aber halb beleuchtet, wie man aus der nachfolgenden kleinen Skizze ersehen kann.
Nun gehen eindringliche, um nicht zu sagen grandiose Naturerlebnisse stets mit gewissen sexuellen Aufwallungen einher, wie allgemein bekannt sein dürfte. Angesichts des Mondes im ersten Viertel (ich verwende im weiteren Verlauf des Textes wieder die ursprüngliche Bezeichnung unseres natürlichen Erdtrabanten), der sich schräg hinter mir am südöstlichen Himmel befindet, denke ich an den Samoanischen Borstenwurm, auch Samoa-Palolo genannt. Er wird bis zu 70 cm lang und lebt in den Korallenriffen des südlichen Pazifik. Dort gräbt er sich mit dem Kopf voran in den Kalk und ernährt sich daselbst von Algen. Die Fortpflanzung des Palolo-Wurms ist eng mit den Mondphasen verknüpft. Exakt am zweiten und dritten Tag nach dem letzten Viertel im Oktober schnürt er seinen bis zu 40 cm langen borstigen Hinterleib ab, in dem er vorher seine Spermien oder Eizellen gebildet hat. Dieser prall mit "Geschlechtsprodukten" (ich liebe diesen Biologenslang) gefüllte borstige Hinterleib (ugs.: Arsch) ist jedoch beileibe nicht untätig. Er verfügt über ein gewisses Eigenleben und befördert sich mit schlängelnden Bewegungen an die Wasseroberfläche. Dort angekommen trifft er sich mit den anderen Ärschen zu einer Orgie von geradezu biblischen Ausmaßen. Männliche und weibliche Ärsche öffnen sich und entlassen ihre Produkte ins Wasser, wo die Befruchtung stattfindet. Dieselbe Prozedur wiederholt sich genau einen Monat später, kurz nach dem letzten Novemberviertel der Mondphase.
Die Fischer auf Samoa sind auf dieses Ereignis vorbereitet und schöpfen die meterdick auf der Wasseroberfläche treibende Suppe aus Sperma und Eiern ab. Sie ist natürlich sehr nahrhaft und gilt als Delikatesse.
Würde ich einer Religion anhängen, die an Wiedergeburt glaubt, würde ich mir vermutlich Gedanken machen, wessen ich mich schuldig machen müsste, damit ich zur Strafe als Samoa-Palolo wiedergeboren werde. Jedes Jahr aufs Neue dieselbe Zeremonie: "Good bye Arsch, wünsche viel Vergnügen! Ich werde an dich denken!"
Während ich langsam von gelben Birkenblättern bedeckt werde, denke ich noch kurz an Pfaffen- und Nonnenseelen, die sich in Südseekorallen graben. Die Windsimulanten von Epsilon Eridani warten auf ihren Feierabend.
Montag, 3. Oktober 2011
Hekatombus
Die Sonne scheint. Johlend und jauchzend springe ich aus dem Bett, den Balkon hinunter und bin nach einem Zwischenhüpfer wieder in der Luft. Planeten sind um diese Tageszeit natürlich nicht zu sehen, der Himmel ist blau und weit. Auf dem Rücken fliegend mache ich Rückenschwimmbewegungen, obwohl die bei der Geschwindigkeit aerodynamisch natürlich eher hinderlich sind. Egal. Ich rudere durch den Himmel. Die Landung ist dann aber abrupt und ohne Eleganz. Die Bank unter der alten Linde ist leer. Ich schaue kurz weg, schaue wieder hin, wieder weg...aus den Augenwinkeln betrachtet ist ein zartes Schimmern wahrzunehmen. Kaum zu glauben, nach all den Jahren.
Sonntag, 25. September 2011
Am See
Montag, 19. September 2011
Auf dem Bahnhof
Ich rief ihr noch etwas nach, doch es stieß mit dem zusammen was sie mir nachrief und es verpuffte in einer fupenden Wolke, die noch lange hoch oben über dem Dach des Kaufhofs funkelte und glitzerte im frühern Sonnenlicht. Sogar als ich später im Zug saß und er gerade die Innenstadt links liegen ließ vermeinte ich noch ein paar Lichtreflexe zu erkennen, vom Wind mittlerweile arg abgetrieben. Raben kreisten nicht weit davon, verwundert krächzend.
Samstag, 10. September 2011
Hab Sonne im Herzen
Donnerstag, 8. September 2011
Jupiter am Abend
Nachtschwärmer und Schlaflose aufgemerkt: Jupiter verlegt seine Sichtbarkeit immer mehr in die frühen Abendstunden. Während er im Sommer noch erst weit nach Mitternacht aufging und es längst hell wurde, ehe er eine nennenswerte Höhe über dem Osthorizont erreichte, so geht er dieser Tage bereits um 20 Uhr MESZ auf. Um Mitternacht also steht er dann schon weiß gleissend und breit am Südosthimmel. Genau genommen ist es sogar noch einfacher: man guckt einfach nachts nach oben, und der hellste "Stern", den man sieht, das ist Jupiter. In gut ausgeleuchteten Großstädten dürfte er sogar der einzige "Stern" sein, den man überhaupt sieht.
Arsch war so freundlich, für obige kleine Szene als Sonne zu fungieren. Für Alien fand sich leider keine passende Rolle, aber ich brachte es nicht übers Herz, ihm das so ins Gesicht zu sagen. Also übertrug ich ihm pro forma die Gesamtverantwortung.
(die Größenverhältnisse stimmen nicht, die Abstände der Planetenbahnen sind hingegen maßstabsgetreu)
Da die Erde viel näher und schneller um die Sonne läuft als Jupiter, überholt sie ihn immer wieder auf der Innenbahn. Das ist am 29. Oktober wieder mal der Fall. An diesem Datum steht die Erde kurzfristig genau zwischen Sonne und Jupiter. Auf einen irdischen Beobachter übertragen bedeutet das, Jupiter steht am Himmel der Sonne genau gegenüber. Das heißt, er geht im Osten auf, wenn die Sonne im Westen untergeht. Und er geht im Westen unter, wenn die Sonne im Osten aufgeht. Er ist dann also die ganze Nacht über zu sehen.
Arsch war so freundlich, für obige kleine Szene als Sonne zu fungieren. Für Alien fand sich leider keine passende Rolle, aber ich brachte es nicht übers Herz, ihm das so ins Gesicht zu sagen. Also übertrug ich ihm pro forma die Gesamtverantwortung.
(die Größenverhältnisse stimmen nicht, die Abstände der Planetenbahnen sind hingegen maßstabsgetreu)
Da die Erde viel näher und schneller um die Sonne läuft als Jupiter, überholt sie ihn immer wieder auf der Innenbahn. Das ist am 29. Oktober wieder mal der Fall. An diesem Datum steht die Erde kurzfristig genau zwischen Sonne und Jupiter. Auf einen irdischen Beobachter übertragen bedeutet das, Jupiter steht am Himmel der Sonne genau gegenüber. Das heißt, er geht im Osten auf, wenn die Sonne im Westen untergeht. Und er geht im Westen unter, wenn die Sonne im Osten aufgeht. Er ist dann also die ganze Nacht über zu sehen.
Samstag, 3. September 2011
Sonnenwindmorgen
Das Geräusch ist kaum wahrnehmbar. Unterschwellig und wie ein Dieb schleicht es sich in Namensuchmanns Schlaf. Ein leises, weit entferntes und doch machtvolles Rascheln. Ein unbekannter Traum von überkochender Marmelade und fremden, flüsternden Menschen in der Dachkammer klingt aus in sanft wogenden und im Wind knisternden Kornfeldern unter einer surrenden Traumdeckenlampe.
Namensuchmann öffnet seine noch von der Nacht schweren Lider. Der Traum zerspringt in tausend funkelnde Realitäten, die sich schnell verflüchtigen und aufgesogen werden von ersten, noch unvollkommenen Gedanken.
Es ist früh am Morgen, die Sonne steht noch nicht weit über dem fernen, halb von Wald bedeckten Hügel, an dessen Fuß der örtliche Friedhof angelegt wurde. Und doch scheint sie schon hell und klar in das Zimmer, auf das Fußende von Namensuchmanns Bett.
Bis jetzt ist es jedoch nur ein schmaler Lichtstreifen, der das Bett noch kaum berührt. Die Balkontür schräg gegenüber des Fensters ist weit geöffnet, im Zimmer ist es noch frisch und kühl von der vergangenen Nacht. Die Bettdecke ist etwas nach oben gerutscht, ihre Zehen schauen darunter hervor wie eine schweigsame Prozession betender Mönche. Der schmale Lichtbalken, ein Versprechen wohliger Wärme an diesem frischen Herbstmorgen, beginnt die Zehen zu umfließen, verleiht ihnen einen rosigen Schimmer der Zufriedenheit. Namensuchmann richtet sich so vorsichtig wie möglich auf, um sie eingehender betrachten zu können. Er verharrt bewegungslos. Jedoch nicht, weil er ihren Schlaf nicht stören will, sondern um dieses Schauspiel möglichst lange und ungestört verfolgen zu können. Wie das Wasser bei rückkehrender Flut in die Polder und Marschen vordringt, so dringt jetzt das Licht in immer neue Bereiche ihrer Zehen vor, erobert dort eine Rundung, da eine Biegung und wieder woanders ein kleines Fältchen, einen kleinen, gepflegten Nagel.
Dann beginnt das Licht die Bettdecke oberhalb der Zehen zu erobern. Namensuchmann sieht sich an, wohin es noch wandern wird, wenn er lange genug wartet. An den Konturen unter der dünnen Sommerdecke erkennt er, dass sie ein Bein leicht angewinkelt hat. Das andere, dessen Zehen nun im vollen Sonnenlicht leuchten, ist ausgestreckt. Die aufgeworfenen Falten der Decke verraten, dass sie immer noch ihre gewohnte Schlafhaltung innehat, noch ist nichts zu spüren von der morgendlichen Unruhe kurz vor dem Aufwachen. Ihr Oberkörper ist leicht auf die Seite des abgewinkelten Beines gedreht und beide Arme sind unter der Decke verborgen. Von ihrem Kopf ist nicht viel mehr als ein dichter Haarschopf zu sehen, darunter, das Gesicht, muss jedoch Namensuchmann zugewandt sein. Vermutet er.
Namensuchmann setzt sich so bequem hin wie es ihm möglich ist ohne allzuviel Bewegung auf die Matratze zu übertragen. Der etwas breiter gewordene Lichtbalken hat nun fast die unter der Decke verborgenen Knie erreicht. Gleichzeitig liegen die Zehen nur noch einen Finger breit vom Schatten entfernt, der dem Licht folgt. Ein Zeitraffer würde ein helles Lichtrechteck zeigen, das längs und im Bogen über das Bett huschen würde während die Sonne den morgendlichen Himmel erklimmt.
Namensuchmann greift langsam in die Decke. Wenn er langsam und mit der gebotenen Vorsicht zu Werke ging, konnte er sie vielleicht wegziehen, ohne sie aufzuwecken. Sie war sehr leicht und überhaupt nicht kratzig, eine gute Qualität!
Das angewinkelte Knie, das von Namensuchmann wegwies, kam als erstes unter der zurückweichenden Decke zum Vorschein. Er musste sich eine Art Aufrolltaktik überlegen, um den gerafften Stoff unter Kontrolle zu bringen und hinter seinem Rücken zu Boden gleiten zu lassen. Doch bald war es geschafft, nichts bedeckte mehr ihren Körper. Und sie schlief immer noch, das verrieten ihre tiefen und regelmäßigen Atemzüge.
Ihre Zehen lagen nun schon wieder im Schatten, das Lichteck war weitergewandert, über ihre nackten Beine und Knie. Ihre Haut schimmerte samten im stärker werdenden Licht. Namensuchmann musste sich etwas zur Seite beugen, um keinen Schatten auf sie zu werfen, um das Lichteck perfekt wandern zu lassen. Von draußen drang das stete Rascheln des morgendlichen Windes ins Zimmer, das Namensuchmann aus seinen Träumen hatte aufwachen lassen. Ein Rascheln ohne Höhen und Tiefen, ohne merkliche Intensitätsunterschiede, ein stetes Hintergrundgeräusch wie von einer blauen Himmelsdecke, die langsam durch die Bäume gezogen wird. Vereinzelte gelbe Blätter taumelten am Fenster vorbei und klackten hörbar auf die Straße. Das Lichteck hatte ihr Becken erreicht, ihre Knie lagen schon wieder halb im Schatten. Ihr Schamhaar, in der Nacht noch dunkel und dicht, schimmerte nun fast golden und lichtdurchflutet. Hüfte und Bauch warfen dünenhafte Schatten in den sehr schräg einfallenden Strahlen. Bald würde ihr Busen beleuchtet werden und ihr Becken wieder in den Schatten gleiten.
Namensuchmann beugte sich mit seinem Gesicht langsam und vorsichtig vor. Nur ganz knapp über ihrer Hüfte verharrte er und sog tief ihren Duft ein. Es war derselbe, der auch an ihm haftete, an seiner Hand, an seinem Arm, in seinem Gesicht. Bald würde das Licht ihren Kopf erreichen. Namensuchmann richtete sich wieder auf und schaute auf ihr Haar, das nun etwas zur Seite gefallen war. Er sah in ihr Gesicht. Aus halb geöffneten Augen betrachtete sie ihn.
Mittwoch, 31. August 2011
Sommerzeit ist Marmeladenzeit
Sonntag, 28. August 2011
Sonntagabend
Mein Joggingwald hat einen sehr dichten Waldrand. Der Feldweg, der zum Waldweg wird, führt geradewegs hinein wie ein Tunnel in eine Bergwand. Zu Spätsommer- und Frühherbstzeiten geht die Sonne exakt so unter, dass sie knapp über dem Horizont stehend diesen grünen, schweigsamen Tunnel der Länge nach ausleuchtet mit ihrem rotgoldenen Abendlicht. Laufe ich hinein, eilt mein dutzende Meter langer Schatten mir voraus.
Ich war heute schon auf dem Rückweg, meine Augen waren weit und dem Dunkel des Waldes geöffnet. Ich bog um eine letzte Kurve, als mich die tiefstehende Sonne frontal traf, obwohl ich noch hundert Meter tief im Wald war. Das Licht flutete fast lärmend gegen mich an. Sofort spürte ich den physischen Widerstand. Hinter mir schlug mein kämpfender Schatten feurige Lichtschwerter in die Dunkelheit. Ich hatte keine Chance, das Licht war stärker, ich lief auf der Stelle. Doch nur kurz. Denn sogleich fing die Erde an, sich unter meinen Füßen durchzudrehen wie das Laufband eines Heimtrainers. Auf diese Weise kam ich nun doch voran, obwohl ich de facto stillstand im Licht. Das Maisfeld wanderte gleichförmig an mir vorüber, dann die alten Obstbäume am Rande der Straße. Die Schafe in der Koppel konzentrierten sich, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren in der plötzlich veränderten Erddrehung. Ich fragte mich, ob ich nicht einfach stillstehen sollte und warten, bis die Sonne untergegangen wäre. Doch da kam schon mein Haus und mein Balkon in Sicht. Auf dem Balkon stand der Zombie, mein Engel auf seinem Kopf. Unter Anleitung des Geflügelten streckte der Zombie mir seinen Arm entgegen, der aufgrund der Fäulnis bedeutend länger war als ein normaler menschlicher Arm. So konnte ich ihn problemlos greifen, als der Balkon, das Haus und alles an mir vorüberzog. Ich schwang mich hoch, halb von dem Zombie gezogen, halb mit dem Schwung meines Laufes, und kurz beglückwünschten wir uns zu unserem Husarenstück. Ich war zu Hause, bewegte mich nicht mehr, die Erde ging wieder ihren gewohnten Gang.
Sonntagmorgen
Mein Engel zieht ein seltsam gewirktes Gewebe von meinem Gesicht. Es ist nicht genau erkennbar wo es endet und wo es anfängt. Trotzdem beginnt er, es gewissenhaft zusammenzufalten. Doch erst, als er das schimmernde Päckchen unter seinem Gewand verschwinden lässt bemerke ich, dass es anscheinend aus demselben Stoff gewebt wurde.
Ich blinzele mit meinen Augen. Der Schwarm winziger Begebenheiten, eigentlich mehr eine Wolke aus glitzernden Momenten, kreist und schwebt über meinem Bett. Manchmal torkelt ein Teilchen aus der Wolke und fällt geruhsam und in der Morgensonne blinkend auf mein Gesicht, wo es sich sogleich auflöst wie ein Rauhreifkörnchen auf der Zunge. Je mehr dieser Teilchen auf mich herabschweben, desto mehr fühlen sie sich wie Sonntagmorgen an. Draußen blauer Himmel.
Ich höre leises Motorengebrumm. Weit entfernt, weit oben. Viel näher raschelt der kühle Morgenwind in den Blättern. Die Welt gleisst und schimmert. Licht und Wind durchdringen sich ungehindert. Ich könnte hinausgehen und mich dem in den Weg stellen, oder mich am Durchdringen beteiligen. Das Licht spüren, das mein Innerstes durchquert und dabei daran denken, dass Photonen keine Zeit kennen. In der Nacht sah ich hoch am Osthimmel Jupiter. Sog sein Licht in mich auf, das von einer Sonne kam, die tief unter mir auf der anderen Seite der Erde stand. Doch blickt man in den Nachthimmel, dringen auch Photonen unterhalb der Wahrnehmungsschwelle auf die Netzhaut. Man sieht sie nicht, und doch finden sie ihren Weg durch das Auge in unseren Körper. Lichtteilchen, die seit dem Urknall durch Raum und Zeit reisten und nun als Energiequanten in meinem Körper schimmern, aber nur für Engelsaugen.
Mein Engel sitzt jetzt am Fußende auf meinem Bett und blickt versonnen nach oben in die glitzernde Wolke. Ich könnte ihn jetzt anfassen, denke ich, unternehme aber keinerlei Anstrengung, dem Gedanken eine Tat folgen zu lassen. Es ist Sonntagmorgen und die Welt ruht gleissend und gedankendurchwebt im Herbstlicht. Wieder entferntes Motorengebrumm hoch am Himmel. Es stört nicht, es steckt lediglich Entfernungen ab, die auf mich herniedersinken wie ein abgeschnittenes weiches Band, sich zu endlosen Schlingen und Biegungen auffaltend.
Ich sollte aufstehen und den Entenstall öffnen. Schranze und Marie warten bestimmt schon ungeduldig unter ihren eigenen Augenblickswolken. Im Widerschein ihrer stets lächelnden Gesichter die blinkend niedersinkenden Ausreisserteilchen, wie winzige silberne Spiegelchen Strahl für Strahl verschickend. Ich bewege unter der Bettdecke meinen Fuß. Mein Engel senkt langsam seinen Blick und schaut nun zu mir mit seiner undeutbaren Miene. Er scheint zu warten. Ich hebe etwas meinen Kopf und schnüffle unauffällig in der Luft. Es riecht leicht nach den violetten Distelblüten, über die sich die Hummeln hermachen hinterm Haus. Ich vermute daher, auch Hummelhintern duften nach Distelblüten.
Freitag, 19. August 2011
Zeppelin über Berlin
Im Fernsehen lief kürzlich ein Bericht über die Schönhauser Allee in Prenzlauer Berg, einem Stadtteil von Berlin. Da ich dort einmal sechs Wochen wohnte und es mir sehr gut gefallen hat, ließ ich mir die Sendung natürlich nicht entgehen. Die vertrauten Bilder der verschiedenen U-Bahnstationen wie zum Beispiel die Eberswalder Straße weckten sogleich wahre Schübe von Fernweh, das sich jedoch wie Heimweh anfühlte.
Irgendwann wurde ein kleiner Friseurladen portraitiert und der Inhaber erzählte allerlei skurile Geschichten von seinen bunten Stammgästen. Fast zerrissen vor Lachen und Vergnügen hat es mich, als er von einem alten Herrn erzählte, der aber leider schon verstorben war. Dieser hatte in den dreißiger Jahren schon in Berlin gewohnt und sah regelmäßig die großen Luftschiffe des Grafen Zeppelin einschweben.
"Das war sicher ein sehr beeindruckender Anblick", hatte der Friseur bemerkt.
"Ja, das kann man wohl sagen", habe daraufhin der alte Herr gesagt, "wenn es bloß nicht immer so gestunken hätte!"
"Wie...gestunken?", hatte der Friseur verblüfft gefragt, "Die Zeppeline haben doch nicht gestunken?"
"Nein, die natürlich nicht", rief darauf der alte Herr, "aber die Weiber rannten immer alle aus den Häusern zum Gucken und ließen das Essen anbrennen!"
Manchmal stösst man auf eine kleine Fußnote der Geschichte, die man niemals erfinden könnte.
Mittwoch, 17. August 2011
Das Leben eines Regenwurms
Auch wenn man ein vierzehn Jahre altes Auto fährt ist man doch einigermaßen angefressen, wenn es dann doch mal eine Panne hat. Obwohl man ja eigentlich damit rechnen muss. Irgendwann ist es immer soweit. Ärgerlich und zum Haare raufen wird es aber erst, wenn man feststellen muss, dass der Fehler sich bei korrekter und gewissenhafter Wartung hätte vermeiden lassen. Glück im Unglück ist es hingegen, wenn die Panne in der Nähe der Heimatbastion passiert und man das gute alte Stück zu vertretbaren Kosten zu sich nach Hause holen lassen kann und man mit etwas Hilfe die Sache vermutlich selber wird reparieren können.
Wie dem auch sei, zur Zeit ist also das Fahrrad mein Hauptverkehrs- und Transportmittel. Ich muss meinem Kaff zugute halten, dass es mit zwei Lebensmittelläden, einer Bäckerei, einer Metzgerei, einer Apotheke und einem Schlecker recht gut aufgestellt ist. Die nächste öffentliche Bibliothek ist allerdings in der nächsten Stadt, und die ist nicht nur 6 Kilometer entfernt, sondern liegt auch 100 Meter tiefer; was den Rückweg nach Hause nicht gerade zu einer Spazierfahrt macht. Trotzdem schaffe ich ihn mittlerweile in knappen 20 Minuten.
Gestern war so ein Bibliotheksausflug, ich saß in der Zeitschriftenabteilung und las das neue Cinema, ein Magazin für Film- und Kinofreunde. Darin wurde ein Film besprochen, dessen Thema, oder besser, dessen Intention, mich sofort gefangen nahm. Er wurde nach dem Roman eines zeitgenössischen italienischen Autors gedreht. Ich schaute auf die Uhr und verließ die Bibliothek. Zum Buchladen war es nicht weit, ich schloss trotzdem mein Fahrrad auf und fuhr die kurze Strecke. Doch das Geschäft hatte bereits um halb sieben zugemacht. Ich radelte die sechs Kilometer und 100 Höhenmeter (netto) nach Hause.
Am nächsten Morgen, d.h. heute, rief ich im Buchladen an und fragte, ob das Buch vorrätig sei. Ja, sie würden es mir zurücklegen. Am späteren Nachmittag schwang ich mich wieder auf mein Fahrrad und fuhr sechs Kilometer und 100 Höhenmeter zum Buchladen. An der Theke nannte ich den Titel des zurückgelegten Buches, woraufhin eine Verkäuferin fast wehmütig seufzte: "Ach, das möchte ich auch unbedingt noch lesen!"
Ich packte meine Beute ein und überlegte. Es war einer jener seltenen weil brütendheissen Sommertage, die Hitze stand in den Gassen. Ich musste unbedingt noch etwas trinken, ehe ich die sechs Kilometer und 100 Höhenmeter (netto) wieder in Angriff nahm.
Nicht weit von der Buchhandlung entfernt befindet sich ein Café mit Aussenbewirtung unter großen alten Kastanienbäumen. Ich setzte mich an einen freien Tisch, bestellte mir ein großes Radler, holte mein Buch aus dem Rucksack und begann zu lesen.
Bald schob sich eine alte Frau mit ihrem Rollator zwischen den Tischen hindurch. Sie hielt auf einen älteren Herrn zu, der alleine an einem Tisch saß und fragte ihn wortreich, ob noch ein Platz frei wäre. Der ältere Herr mochte gut 70 Jahre alt sein, doch die Frau war bestimmt nochmal 20 Jahre älter. Sie trug ein bunt geblümtes Kleid. An ihrem Rollator war ein Gerät befestigt, von wo ein dünner durchsichtiger Sauerstoffschlauch zur Nase der Frau führte. Sie kam mir bekannt vor. Ich schaute genauer hin. Ja, ich kannte sie.
Frau Pluskat war eine Bewohnerin des Altenheimes gewesen, in dem auch mein Vater lag bis zu seinem Tod. Sie saß oft alleine in der Caféteria, so dass ich mich manchmal zu ihr setzte, wenn ich meinen Besuch bei meinem Vater beendet hatte. Sie klagte mir oft ihr Leid mit den Pflegekräften und war dann stets dem Weinen nahe. Allerdings war ich selbst mit dem Personal des Altenheimes und der Behandlung meines Vaters immer sehr zufrieden. Doch ich sah keinen Sinn darin, Frau Pluskat in eine Diskussion über moderne, d.h., an der Grenze menschlicher Physis entlangschrammende Pflege zu verwickeln. Ich hörte ihr zu und hielt auch manchmal ihre Hand.
Irgendwann war sie nicht mehr an ihrem Stammplatz und ich erkundigte mich nach ihrem Verbleib. Mir wurde der Name einer weit entfernten Stadt genannt, den ich aber wieder vergaß. Dorthin sei sie umgezogen.
Ich war also etwas überrascht, als ich Frau Pluskat heute in dem Café erkannte. Nachdem ich mein Radler ausgetrunken und bezahlt hatte, ging ich zu ihr hinüber und setzt mich zu ihr an den Tisch. Sie erkannte mich gleich wieder. Wie sich herausstellte, war sie lediglich in ein anderes Altersheim einen Kilometer weiter umgezogen, doch dort gefiel es ihr auch nicht. Nach zehn Minuten verabschiedete ich mich, ging zu meinem Fahrrad, schloss es auf und radelte nach Hause.
Etwa zwei Kilometer vor meiner Haustür bemerkte ich vor mir auf dem Radweg, etwas links von der Mitte, eine kleine braune Eidechse. Es wäre alles gut gegangen, wenn sie ruhig sitzengeblieben wäre. Aber etwa einen Meter vor mir spurtete sie plötzlich los und rannte mir unter das Fahrrad. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich sie erwischt hatte. Im selben Augenblick vernahm ich ein deutliches, rhythmisches Zischen. Ich befand mich neben einer Sägerei und dachte, vermutlich entlüftet ein LKW seine Bremsen. Aber nach etwa 20 Metern war klar, dass das Zischen aus dem Hinterreifen meines Fahrrades kam. Ich hatte einen Platten. Die Sonne brannte herunter und ich war ziemlich enttäuscht vom Weltgeist. Ich sparte mir den Weg zurück zu der Eidechse angesichts der zwei Kilometer Fußmarsch, die noch vor mir lagen. Nach etwa einem Kilometer ringelte sich vor mir auf dem Gehweg ein Regenwurm in geradezu ekstatischen Zuckungen. In der Hitze hätte er keine zehn Minuten mehr durchgehalten. Ich hob ihn auf und trug ihn zu einem sehr grünen, sehr dichten und feuchten Gebüsch.
Auf dem weiteren Heimweg rekapitulierte ich die ganze Geschichte. Die Autopanne vor zwei Wochen, weswegen ich überhaupt mit dem Fahrrad in die Stadt fuhr. Mein Blick in das Kinomagazin, die Entdeckung des Films und des Romans, der geschlossene Buchladen, weswegen ich am nächsten Tag nochmals hinfuhr. Mein Durst, das Radler und Frau Pluskat sorgten für die nötige Verzögerung und das genaue Timing. Die Eidechse und das gleichzeitige zischende Entweichen der Luft aus dem Reifen. Dann, zehn Minuten später, der Regenwurm, den ich vor dem Austrocknen rettete.
Manchmal sind die Dinge einfach nur so kompliziert wie unbedingt nötig.
Dienstag, 16. August 2011
Sonntag, 14. August 2011
Draußen an der Bar
An spärlich beleuchteten Bartresen nachts um halb zwei erlebt man die seltsamsten Geschichten. Man geht in die Bar, stellt sich an den Tresen und bestellt ein Getränk, das möglichst kein Bier und kein Mineralwasser sein sollte. Sodann dreht sich eine blendend doch traurig aussehende Frau zu einem um und fragt nach Feuer oder ob man sie mal kurz oben zwischen den Schulterblättern massieren würde, sie habe da so eine tiefsitzende nervige Verspannung seit sie ihren langjährigen Freund letzte nacht vor die Tür setzte. Man geht dann mit ihr raus vor die Türe zum Rauchen obwohl man vor zwanzig Jahren zum letzten Mal eine Zigarette zwischen den Lippen hatte. Und während man so dasteht und über die Relativitätstheorie plaudert dreht sie sich in ihrem rückenfreien Cocktailkleid um und weist mit ihrer freien Hand auf eine bezaubernde Stelle zwischen Wirbelsäule und linkem Schulterblatt.
"Da ist es besonders schlimm. Muss wohl eine Verspannung sein. Könnten Sie vielleicht...?"
Hier auf dem Lande gibt es natürlich keine Bars, die bis um halb zwei in der Nacht geöffnet haben, geschweige denn blendend aber traurig aussehende Frauen, die in rückenfreien Cocktailkleidern am Tresen sitzen und massiert werden wollen. Allerdings ist es schon nach Mitternacht. Die Zeit zumindest verläuft hier großstädtisch. Am Bach unten steht eine große Pappel mit einem mörderdicken Stamm. Den könnte ich mir als Bartresen vorstellen, wenn ich ihn mir in Gedanken in die Horizontale drehe und virtuell gleich noch ein wenig poliere. Ich stapfe den Hang hinunter, in der Dunkelheit kann ich die Brennnesseln nicht erkennen und verbrenne mir Hände und Knöchel. Lässig lehne ich mich an den alten Baum und denke mir ein Cocktailglas dazu. Oben raschelt leise das Laub im Nachtwind, aber ich bilde mir einfach ein, es wären die monotonen Rhythmen eines angesagten House-DJs. Ich wippe sogar etwas mit meinem linken Fuß. Eine blendend aussehende aber traurige Frau ist leider noch nicht zu sehen. Ich tätschle etwas den Stamm und blicke mich souverän um, doch es ist niemand da, der getröstet oder massiert werden möchte.
Im Mondlicht bewegt sich ein kleiner Schatten über die Rinde. Ich nehme mein Handy und beleuchte die Stelle mit dem Display. Es ist eine Baumwanze, die von hoch oben heruntergekrabbelt kommt. Sie sieht mich und schaut erschrocken drein.
"Hey, keine Sorge, ich habe es auf blendend gut aussehende trübsinnige Frauen abgesehen, nicht auf harmlose Baumwanzen", sage ich.
"Da bin ich aber beruhigt", sagt die Baumwanze und hält erst einmal inne. Sie scheint gar nicht unfroh darüber zu sein, ihren Abstieg den Baumstamm hinunter unterbrechen zu können. Ich bewundere ihren imposanten Rücken- und Schulterpanzer. Er sieht genau so aus wie damals bei Biene Maya. Was mich auf einen Gedanken bringt.
"Sag mal", sage ich zu ihr und versuche, ziemlich lässig dreinzublicken, "fangt ihr wirklich immer an zu stinken, wenn ihr euch ärgert?"
Kaum hatte ich das letzte Wort ausgesprochen, ging das Display meines Handys aus und nur der silbrige Schein des Mondes erleuchtete noch matt den massigen Baumstamm mit dem kleinen dunklen Knubbel darauf.
"Ja, natürlich", antwortete die Baumwanze, "das ist ein völlig natürlicher und keinesfalls ehrenrühriger Vorgang. Er dient dazu, unser Leben zu verlängern, wenn du verstehst, was ich meine".
"A propos Leben", sagte ich, "seid ihr Baumwanzen nicht tagaktive Tiere? Was krabbelst du jetzt mitten in der Nacht auf diesem Pappelstamm herum?"
Die Baumwanze tat so, als hätte sie die Frage nicht gehört. Sie musterte interessiert die nächste Wegstrecke, die noch vor bzw. unter ihr lag. Die Rinde war sehr dick und furchig. Für so ein kleines Wesen musste der Weg den Stamm hinunter äusserst mühsam sein.
"Warum benutzt du nicht deine Flügel? Ihr könnt doch fliegen, wenn ihr wollt", versuchte ich es mit einer anderen Frage. Doch auch sie wurde von der Baumwanze überhört. Ob absichtlich oder aus schierer Gedankenlosigkeit vermochte ich nicht zu sagen. Ein wenig angenervt war ich allerdings schon von so viel Unhöflichkeit oder Unaufmerksamkeit. Während ich überlegte, ob ich mir dieses Verhalten bieten lassen sollte, schaute ich mich interessiert um und wippte mit dem Fuß. Natürlich sah ich nichts. Es war stockfinster. Das silbrige Mondlicht schaffte es gerade noch so auf den Pappelstamm, aber nicht mehr bis in das Gebüsch um den Stamm herum. Na ja, dachte ich mir, in den Bars ist es ja auch immer ziemlich duster.
"Wieso trübsinnig?", fragte die Baumwanze unvermittelt.
"Was?"
"Wieso bist du auf der Suche nach einer trübsinnigen Frau?"
"Achso, nein, das sagte ich doch nur so. Ich meinte eigentlich eher melancholisch. In diesen Filmen, wenn nachts ein Mann einen trinken geht, dann sitzt da meistens eine Frau an der Bar, die nicht sehr glücklich dreinschaut und dann von dem Mann getröstet wird."
"Aha", sagte die Baumwanze, "und sind wir hier in einer Bar?"
Ich schaute mich unwillkürlich um. Nein, es war natürlich keine Bar. Ich lehnte mitten in der Nacht in vermutlich zeckenverseuchtem Gestrüpp an einem Baum und wartete auf eine melancholische Frau die sich von mir trösten ließ. Aber diesmal war ich es, der eine Frage einfach überhörte. Doch die Wanze schien das nicht zu stören. Vermutlich war die Frage sowieso nur rhetorisch gemeint gewesen.
Die Wanze spreizte nun ihre Deckflügel und fing an zu pumpen. Es schien ein recht anstrengender Vorgang zu sein denn sie bekam einen ziemlich starren Blick dabei. Ich bemerkte das, weil zufällig ein dünner Mondlichtstrahl genau auf ihre Augen fiel und glitzerte und funkelte. Dann stieß sie sich ab, fiel erst ein paar Zentimeter nach unten und gewann dann stetig und wie ein Tiefflieger brummend an Höhe. Sie benutzte das schräg durch das Dickicht einfallende Mondlicht als Leitstrahl und wurde schnell kleiner, während sie zum Mond flog.
Nein, es war natürlich keine Bar. Und eine schöne Frau die getröstet werden wollte kam in jener Nacht auch nicht in das Gestrüpp.
Wenn´s regnet (XV)
Die Finger und Hände begannen vor Kälte zu schmerzen. Das von angetautem Schnee sulzige Wasser setzte nun den platschenden Händen einen merklichen Widerstand entgegen. Und noch immer totale Dunkelheit. Es waren nur wenige Meter, bis Namensuchmann zu dem Schnittpunkt der beiden Linien gelangen musste. Dort brauchte er dann nur noch nach links abzubiegen, und nach einem weiteren Meter würde er beim Bentley sein. So die Theorie. In der Praxis jedoch begann er furchtbar zu frieren. Seine Baumwollwachsjacke wurde durch das Gewicht des Schnees auf seinen Rücken gedrückt. Er wusste nicht, ob er das als angenehm oder als störend empfinden sollte. Er fühlte sich wie unter einer dicken Steppdecke geborgen, als hätte er sich zu Hause in sein Bett gekuschelt. Im Bett hatte er immer kalte Füße, jetzt jedoch an diesem irrsinnigen Ort spürte er seit einer Weile seine Füße nicht mehr. Also konnte er sich doch genauso gut vorstellen, dass die Füße warm und trocken im Bett ruhten. Wer oder was wollte ihn daran hindern? Vielleicht jedoch würde er weniger frieren, wenn er den Schnee von seinem Rücken abschütteln würde? Es war klar, unter bestimmten Umständen konnte Schnee wärmeisolierend wirken. Doch hier und jetzt? Es war egal. Namensuchmann war zu erschöpft um sich aufzurichten und den Schnee irgendwie von seinem Rücken herunterzufuchteln. Eine andere Möglichkeit wäre, sich wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt, zu schütteln. Namensuchmann verfolgte diesen Gedanken nicht weiter. Er war nur kurz aufgeblitzt, um sogleich von einer Empfindung kältestarrer Glieder wieder verschluckt zu werden. Wieviel Zeit war eigentlich vergangen? Wie lange war er bewusstlos gewesen nachdem der Bentley auf die erste Linie geholpert war? Wieviele andere Leute wie er krochen in diesem Moment durch absolute Finsternis auf knapp von Wasser überspülten Noppenböden umher? War er der Einzige, dem so etwas widerfuhr? Wenn dem so war, dann war das äusserst ungerecht, fand Namensuchmann. Andere Leute hatten sicher auch mal eine Panne, ohne in einem dunklen nassen Alptraum wieder aufzuwachen.
Er hielt nun doch inne und überlegte, einen Blick auf sein Mobiltelefon zu werfen. Vermutlich war der Akku immer noch leer. Es war unwahrscheinlich, dass er sich von selbst wieder aufgeladen haben sollte. Der Blick auf ein totes Handy schien ihm jedoch nicht so sehr verlockend, um dafür mit klammen schmerzenden Fingern eine von der Kälte und Feuchtigkeit widerborstige Wachsjacke aufzuknöpfen. Eine weitere Option war, sich einfach hinzulegen und erst einmal eine Runde zu schlafen. Das nun schon eiskalte Wasser verlor zunehmend an abschreckender Wirkung. Doch Namensuchmann war klar, dass er dann vermutlich nicht mehr aufwachen würde.
Noch einmal mit links vorgreifen, dann mit rechts. Dann das linke Knie vorschieben, dann das rechte. Dann wieder mit links vorgreifen. Wunsch, die Stirn in das eiskalte Wasser zu tauchen. Etwas war anders. Namensuchmann benötigte einige Zeit um zu bemerken, was es war. Es war ein Geruch. Ein Duft. Er hob die Nase und sog kalte Luft in seine Nase. Es war der Duft nach frisch gefallenem Schnee. Diese Erkenntnis bedurfte einer Bewertung. Es war schön, dass er überhaupt endlich etwas gerochen hatte in dieser Dunkelwelt. Es war erschreckend, dass es Schnee war. Er wurde wieder der dicken fetten Flocken gewahr, die hörbar auf das nun eiskalte Wasser platschten.
"Haaalloooo". Namensuchmann erschrak ob seiner eigenen Stimme. Sie klang dumpf und beklommen, als befände er sich in einem winzigen schalldichten Raum. Er brauchte eine Weile, bis er darauf kam, dass es vermutlich an den dicht fallenden großen Schneeflocken lag, dass der Schall ohne jeden Hall einfach verschluckt wurde. Trotzdem fühlte er sich plötzlich sehr unwohl. Unwohler jedenfalls als zuvor schon. Enge Räume hatten ihm noch nie behagt.
"Rien de rien", summte Namensuchmann mehr als dass er es sang, "Je ne regrette rien"..."Mistsau"...was redete er da? Das musste sich alles erst noch erweisen. Schimpfworte auszustossen fühlte sich seltsam gut an. Er probierte noch ein paar andere aus, doch der positive Effekt ließ schnell nach. Er kauerte immer noch in sulzigem Eiswasser. Linke Hand vorschieben. Da war sie, die andere Linie, die allererste, die er entdeckte und die quer unter dem Bentley hindurchlief. Er war an der Kreuzung angekommen. Nun musste er sich linkerhand halten, dann war der Bentley nicht mehr weit. Etwas mehr als eine oder höchstens zwei Armlängen. Er machte sich schon daran, in Zeitlupentempo abzubiegen, als in ihm der Gedanke aufploppte, diese Linienkreuzung etwas näher zu untersuchen. Soviel Zeit musste sein. Würde ja nicht allzu lange dauern. Er kroch also noch ein Stück weiter, dort hin, wo die beiden Linien wieder auseinanderlaufen mussten. Seine Hände tasteten den Rand der Linien ab und er merkte, es war keine Kreuzung. Die beiden Linien trafen sich nur, sie bildeten die Spitze eines Dreiecks. Namensuchmann war froh. Auf diese Weise wurde er nicht vor die Frage gestellt, die fortlaufenden Linien vielleicht näher zu untersuchen, ihnen ein Stück weit zu folgen bis...ja bis wo? Bis er vor Erschöpfung und Kälte einfach in sich zusammensank? Die Linien zu verlassen kam nicht in Frage. Er würde den Bentley niemals wiederfinden und irgendwann in den Unterwasserabgrund sinken. Also überwechseln auf die andere Linie und zurück zum Auto, zurück zu nassen Lederpolstern, zurück zu einem Verdeck, das Schutz bieten würde vor diesen absurd großen Schneeflocken. Zurück zum Bentley. Dann würde er weitersehen.
Abonnieren
Posts (Atom)